(klb) Im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges, vor genau 90 Jahren, erblickte Ruth Freifrau von Thüngen als Ruth Kaiser in Frankfurt das Licht der Welt. Die Tochter eines Kaufmanns wuchs in gediegener Umgebung auf und genoss eine umfassende Erziehung, die ihren Sinn für das Schöne weckte.
Die Familie zog nach Kassel, dort besuchte Ruth die höhere Töchterschule und bekam durch ihren Vater, einen begeisterten Jäger, Einblicke in die Natur. Als später der Dienst im Pflichtjahr drohte, entschloss sich das Mädchen zu einer Ausbildung zur Gutsekretärin. Dazu gehörte auch ein bäuerliches Jahr.
Nach einer kurzen Ehe mit einem Juristen während des Zweiten Weltkriegs, heiratete sie vor 58 Jahren den Burgsinner Baron und Landwirt Wolfram von Thüngen. Ein großes Schloss und ein noch größerer Garten warteten auf die fachkundige Hand der jungen Frau. Zu ihrer Tochter Anette aus erster Ehe gesellte sich alsbald Sohn Christoph. Familie, Schloss und Landwirtschaft bestimmten von da an ihr Leben, das von viel Arbeit beherrscht wurde und nie „ein Zuckerlecken war“, wie sie sagt.
Ihren ausgeprägten Schönheitssinn, den sie sich bis zum heutigen Tag bewahrt hat, versuchte sie in den alten Gemäuern und im Garten zu verwirklichen. Ihr Mann ließ ihr dafür freie Hand. Besonders die Renovierung des 1607 gebauten „Fronhofer Schlösschen“ verdeutlicht ihre Fähigkeiten: Ein wahres Kleinod entstand.
Wolfram von Thüngen starb 1989, seit dieser Zeit lebt Ruth von Thüngen allein im Obergeschoss des „Neuen Schlosses“ (Baujahr 1620). Noch heute bestellt sie mit Hingabe ihren Garten, zwar mit nachbarlicher Hilfe, aber immer noch voller Energie. Dieser Elan ist auch sonst spürbar: Sie versorgt sich fast allein, nur für die nötigen Handreichungen und Einkäufe hat sie Unterstützung.
Wenn die Baronin, wie sie im Ort nach wie vor genannt wird, auch einen beschränkten Aktionsradius hat, über die Ereignisse in der Welt informiert sie sich täglich durch Fernsehen. Die 90-jährige Dame weiß genau über Politik und Wirtschaft Bescheid und urteilt modern und weitsichtig.
Außerdem verschlingt sie förmlich die Bücher aus der Bibliothek – die Abende sind ihr sonst zu wenig ereignisreich. Aber Ereignisse sind in einem so hohen Alter zu anstrengend, deshalb wird ihr 90. Geburtstag auch nur im kleinsten Kreis begangen.