Unterfranken war früher eine der Regionen in Deutschland mit der höchsten Dichte an jüdischen Gemeinden. Allein auf dem Gebiet des heutigen Landkreises Main-Spessart gab es in 46 der insgesamt 60 Ortschaften jüdische Ansiedlungen. Zu den fast vergessenen Kapiteln europäischer Kulturgeschichte gehören die besonderen Formen jüdischer Mobilität. Jüdische Mitbürger benutzten, in den meisten Fällen wohl nicht freiwillig, eigene Wege.

Der Begriff „Judenwege“ stammt nicht aus dem Judentum, sondern wurde als diffamierende Bezeichnung gegenüber Juden verwendet. Mit Judenwegen bezeichnete man vorwiegend Wege, die von jüdischen Gemeinden zu jüdischen Begräbnisstätten führten. Einige dieser Pfade im Landkreis Main-Spessart führen aus den vielen umliegenden Gemeinden nach Laudenbach zum dortigen großen jüdischen Verbandsfriedhof.

Als „Judenwege“ werden zum Beispiel Pfade abseits der üblichen Verkehrsstraßen bezeichnet, die hauptsächlich von Juden genutzt wurden; Christen nutzten diese Wege kaum. Sie wurden nicht angelegt, sondern entstanden ausschließlich durch tägliche Benutzung. Judenwege waren aber auch Handelswege, die beispielsweise von jüdischen Viehhändlern oder von jüdischen Handlungsreisenden benutzt wurden. Das Wissen um diese Wege wurde vom Vater an den Sohn weitergegeben. Bei diesen Wegen handelt es sich meistens um zum Teil uralte Handelswege.

Bedingt durch die in Deutschland vorliegende Kleinstaaterei, (adelige, reichsritterschaftliche und fürstbischöfliche Herrschaftsgebiete) mussten die jüdischen Händler viele Grenzen überschreiten, was jedes Mal Zollgebühren verursachte. Auch mussten die Juden für die Wegebenutzung ein Tagesbillet lösen. Wenn sie das nicht hatten, waren die Grenzwächter berechtigt, ihnen ihr ganzes Hab und Gut abzunehmen.
Um das zu vermeiden, liefen die Juden die vorhandenen Grenzpfade entlang. Kam jetzt ein Grenzwächter von einer Seite, überschritten die Juden die Grenze und entgingen so den Kontrollen. Beim Transport der jüdischen Verstorbenen zu den Begräbnisstätten war das aber nicht möglich, beim Überschreiten jeder Grenze mussten die Juden sehr viel Leichenzoll bezahlen, was manchmal deren finanzielle Verhältnisse überforderte.
Rituelle Reinigung in der Synagoge Laudenbach
Von einer Bruderschaft wurden die Leichen aus allen jüdischen Gemeinden der Umgebung in die Synagoge Laudenbach getragen, wo die rituelle Reinigung stattfand. Erst danach wurden die Toten den Berg hinauf zum Guten Ort der Juden getragen und begraben. Ab 1920 übernahm ein Laudenbacher Landwirt mit einem Pferdefuhrwerk den Leichentransport. Mit dem Ausbau der Straßen Lohr-Karlstadt und Marktheidenfeld-Karlstadt um 1850, wurden die jüdischen Leichen auf der Straße mit einem von Pferden gezogenem Leichenwagen transportiert, begleitet von sogenannten Klageweibern.

Die Judenwege auf der Markheidenfelder Platte wurden überwiegend zum Viehtrieb benutzt. Den Viehhandel beherrschten die Juden in Deutschland zu zirka 80 Prozent. Für die Landwirte waren die jüdischen Viehhändler sehr wichtig. Sie sorgten zuverlässig für Jungvieh. Auch die Laudenbacher Juden trieben hier ihr Vieh. Es gab dort zumindest im Jahr 1655 einen Viehhändler, bis zum Jahr 1787 waren es bereits derer acht. In Urspringen wuchs die Zahl der jüdischen Viehhändler von drei im Jahre 1731 auf 19 im Jahr 1927. Schon 1699 war Wiesenfeld mit sechs, um 1900 mit 18 Viehhändlern eine Art regionales Zentrum.
Kleeanbau sorgte für mehr Vieh
Im 18. Jahrhundert hat sich der Viehbestand in der Region mehr als verdoppelt. Das lag insbesondere auch an dem neu eingeführten Kleeanbau (1784). Das Verdienst der Einführung des Kleeanbaues in größerem Stil in Deutschland gebührt Joseph Christian Schubart aus Zeitz (1734 – 1787). Kaiser Joseph II. erhob den „Apostel des Kleebaues“ unter dem Namen Christian Schubart, Edler von Kleefeld, in den Adelstand. Durch den Anbau des Klees wurde eine bessere Viehzucht mit Stallfütterung und rationeller Ausnützung des Bodens ermöglicht. Als Stickstoffsammler spielte er auch bei der Fruchtfolge eine bedeutende Rolle.
In Karlstadt war alle 14 Tage Viehmarkt, der auch mit Vieh aus Schweinfurt und Aschaffenburg versorgt wurde. Die Viehhändler kannten die Bedürfnisse der regionalen Metzger und sie waren in der Lage, den Absatz gezielt zu versorgen. Sie verliehen zur Saatzeit Zugochsen oder stellten Kühe, auch trächtige, bei einem Bauern zur Fütterung unter. Zugleistung, Dünger, Milchleistung und den Erlös aus dem eventuell mittlerweile geborenen Kalb und schließlich aus Schlachtung oder Verkauf teilten sich Viehhändler und Bauer meist zur Hälfte. Diese Praxis nannte man „Halbvieh“. Die Risiken bei Krankheit, nicht artgerechter Fütterung oder missglückter Geburt zählten indes zum Berufsrisiko des Viehhändlers.

Aber der Viehtrieb zu den Märkten war sehr problematisch und kostenintensiv. Das Vieh selbst wurde meistens von jungen christlichen Burschen getrieben. Der Lohn betrug drei Reichsmark pro Rind. Zum Treiben banden die jungen Burschen zwei Stück Vieh mittels eines Stocks über die Hörner zusammen. So ließ sich das Vieh im Gelände leichter führen.
Im Wald wurde das Vieh gerne recht langsam vorangetrieben, um dem Vieh das Fressen zu ermöglichen, auch Wiesen und Felder wurden öfters als Viehweide missbraucht. Dieses Verhalten führte sehr oft zu Beschwerden und Handgreiflichkeiten. Wegverbote wurden erlassen. Solche verbotenen Wege existierten auch auf der Markheidenfelder Platte.
Viehhändler waren gleichzeitig Kreditgeber
Bedingt durch den Ausschluss von ehrbarem Handwerk und Zünften waren ab dem 17. Jahrhundert viele Juden als Händler und Hausierer unterwegs. Dies war eine Folge der seit dem 13. Jahrhundert für Juden geltenden Berufsbeschränkungen auf Geldverleih und Handel. Viehhändler handelten oft gleichzeitig als Kreditgeber. So ist ein Pfad aus Stetten bekannt, den Landwirte am Sonntag nach der Kirche gingen, um über die Wiesen nach Thüngen direkt zum Hintereingang des Viehhändlers zu gelangen. Hier holte sich der Bauer ein Fünfmarkstück als Vorschuss auf ein Stück Vieh, das er demnächst verkaufen wollte, damit er nachmittags Karten spielen und sein Bier trinken konnte.
Der Sabbat ist im Judentum der siebte Wochentag, ein Ruhetag, an dem keine Arbeit verrichtet werden soll. Er beginnt mit Sonnenuntergang am Freitagabend und dauert bis zum Eintritt der Dunkelheit am folgenden Samstagabend. Religiöse Juden sind bestrebt, am Sabbat ein Minjan zu beten. Dazu sind zehn religionsmündige männliche Personen nötig (männliche Juden über 13 Jahre alt). Viele jüdische Gemeinden waren zu klein für einen Minjan. Man half sich mit gegenseitigen Besuchen der Nachbargemeinden. Auch das zwang die Juden zur Mobilität.
Mit der Inbetriebnahme der Ludwig-Westbahn 1854/55 und Aussparung des Handelsorts Wiesenfeld zogen die jüdischen Viehhändler fort. Abseits der Bahnstationen verblieben oft nur kleinere Händler. Viehhändler aus Thüngen verluden ab 1854 ihr Vieh zum Teil in Himmelstadt. In Marktheidenfeld und Rothenfels nahm der Viehhandel mit der Eröffnung der Bahnstrecke Lohr – Wertheim um 1881 stark zu, da man mit Hilfe der Bahn auch Vieh aus überregionalen Orten herantransportieren konnte. Judenwege verloren ihre Funktion und gerieten in Vergessenheit.
Erst die jüngeren Generationen haben das Wissen um die Judenwege wieder aufgegriffen und sind dabei, die Geschichte aufzuarbeiten. Es gibt nur noch wenige Zeitzeugen.
Zum Autor: Alfred Dill ist seit 1986 Mitglied beim Historischen Verein Karlstadt. Er beschäftigt sich leidenschaftlich mit der Geschichte der Stadt Karlstadt. Schwerpunkt sind jüdische Wege, Stadt-, Natur- und Landschaftsführungen.
Literatur: Rosa-Luxemburg-Stiftung – Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung, von Horst Helas; Dr. Barbara Rösch: „Der Judenweg“; Fritz Kugler: „1200 Jahre Thüngen“, 1988, S. 240; Israel Schwierz: „Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern“, S. 367 (Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München).
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter www.mainpost.de/geschichte_mspL.