Erwin Keßler weiß viele Geschichten von seinem Opa Wilhelm, der Oma Hedwig und den Gästen, die das für seine Zeit große Wirtshaus mit Saal und Fremdenzimmern besuchten. Der Wirt hatte seinen Spaß daran, wenn beim Kirbtanz zu später Stunde die einheimischen Burschen den auswärtigen Knechten an den Kragen gingen.
Meist waren die Mädchen der Anlass für die Streitigkeiten. „Das wurde von den Honoratioren übrigens nicht unbedingt verurteilt, weil die umworbenen Mägde auch kein Geld hatten und für den unehelichen Nachwuchs die Gemeinde aufkommen musste“, weiß Keßler ein interessantes Detail aus der Heimatgeschichte. Auf jeden Fall habe es Großvater Wilhelm noch im hohen Alter bedauert, dass er einmal früher zu Bett ging und es tatsächlich noch eine Rauferei gab, die ihm dadurch entgangen ist.
Gemeinsames Radiohören
Im Dorf gab es keine großen Unterhaltungsmöglichkeiten, die Leute haben sich selbst unterhalten, berichtet der Keßler weiter. Theaterspiel mit den vielen geselligen Proben, die regelmäßige Zusammenkunft der Vereine und später das Radiohören standen ganz oben auf der Unterhaltungsskala: „1936 bei der Radioübertragung des Schwergewichts-Boxkampfs Joe Louis gegen Max Schmeling aus New York war die ganze Wirtschaft voll“.
Die Vorkriegszeit und die Kriegsjahre sind ihm noch in Erinnerung. Im Ort hat man sich gegenseitig besucht und der Alltag wurde mehr und mehr durch die Veränderungen der Nazidiktatur bestimmt. Im Saal hatten sich die Männer vom Reichsarbeitsdienst für einige Monate einquartiert, um vor dem Dorf Baracken zu bauen, die später den etwa 80 „Arbeitsmaiden“ des weiblichen Arbeitsdienstes als Wohnstatt dienten. Diese mussten ihren mindestens sechsmonatigen Dienst bei den Bauern in den umliegenden Dörfern ableisteten.
Zeichen des Wandels
Maifeiern, Erntedank und die Pflanzung einer Hitlerlinde waren äußere Zeichen des Wandels. Dann gab es noch den sonst so lustigen Zigarettenvertreter aus Würzburg, der nach seiner Einberufung noch einmal nach Höllrich kam, sich aber sehr verändert zeigte und traurig wirkte. Er sei im Osten zu einem Erschießungskommando abgestellt und halte das nicht aus. Deshalb werde er sich nach dem Urlaub an die Front melden. „Es hat nicht lange gedauert, dann kam die Nachricht, dass er gefallen sei“, gibt Keßler einen Einblick in die Grausamkeiten der Kriegsmaschinerie.
Trotzdem bot der Alltag im Wirtshaus immer wieder kurzweilige Stunden. Dafür sorgte eine Zeit lang der diebische Rabe Jakob, der schon einmal einen Kloß vom Teller der Bierfahrer stahl oder mit dem Zwicker eines Würzburger Studenten durch das Fenster entfloh.
Wie andernorts trugen auch im „Hirschen“ einige „Originale“ zur Unterhaltung bei: Der Junggeselle „ es' Andreäsle“, der in Frankfurt arbeitete und somit die Welt gesehen haben wollte, wie er in seinen Geschichten erzählte. Oder Willi der Metzgergeselle, der auf seiner Walz bis nach Aachen kam und nach seiner Rückkehr selbst verfasste Couplets sang. Dazu kamen noch die Dorfburschen, die sich abends bei einigen Gläsern Bier einen Spaß daraus machten, mit verstellten Stimmen die Streitszenen in gewissen Dorfhöfen nachzuspielen.
Die folgende Generation, Oskar und Auguste Kessler, die Eltern von Erwin Kessler, setzten verstärkt auf die Landwirtschaft und verpachteten das Gasthaus 1938. Gegenüber an der Hauptstraße lag auch das zweite Höllricher Wirtshaus, der „Schwarze Adler“. Der Wirt Fritz Brunner fiel im Krieg und seine Frau hat den Gastbetrieb bis in die sechziger Jahre weiter geführt. Heute besteht in Höllrich nur noch der „Hirschen“. Inhaber Josef Endrich bietet seinen Gästen fränkische und italienische Küche, je nach Saison mit heimischen Spezialitäten.