Das Buddeln im Wald ist das eine, das Buddeln in den Archiven und Bibliotheken das andere. Die Interpretation und Darstellung dessen, was mit der Schaufel ausgegraben wird, verträgt sich leider nicht immer mit dem, was der Schreibtisch-Historiker für richtig ansieht. Fragt sich nur: Was stimmt nun?
Über Jahrhunderte war die „Kapelle St. Elisabeth bei Rieneck“ fast völlig vergessen, vom Wegesrand aus sah man nur ein paar Steine. Bekannt war der Ort als „Einsiedel“ oder „Kloster Einsiedel“. Dabei stand hier nie ein Kloster: Die Anlage wird in den Quellen immer „Zelle und Kapelle der heiligen Elisabeth“ oder ähnlich genannt, bewohnt wurde sie von zwei bis drei Eremiten, die höchstens zum Teil und zeitlich nicht durchgängig die Priesterweihe hatten. Es gab keinen Abt und keinen Prior. Der Name „Kloster Elisabethenzell“, wie er sich in den letzten Jahren eingebürgert hat, ist höchst unglücklich.

Von 2012 bis 2016 wurde vom „Archäologischen Spessartprojekt“ (ASP) mit Hilfe zahlreicher Freiwilliger (am Ende mit Dissonanzen) gegraben und die Ergebnisse waren durchaus überraschend und ansehnlich. Schließlich entstand hier ein „Archäologischer Park“, in dem die ausgegrabenen Gebäude saniert und gesichert wurden. Der Öffentlichkeit präsentiert wurde er im August 2018. Da aber Mauerreste schweigen, wurde mit Tafeln die Geschichte erläutert. Nur: Was sich hier liest, entspricht wohl nur begrenzt dem, was man wirklich wissen kann.
Dabei gibt es sogar auf der Seite des ASP eine historische Darstellung des Kreisheimatpflegers Bruno Schneider, die, was historische Fakten angeht, um Längen besser als der Inhalt der Tafeln ist. Ansonsten wurden nur wenige (problematische) Berichte der Grabungsergebnisse veröffentlicht. Ist das, was auf den Informationstafeln und auf der Website des ASP als historische Wahrheit „verkauft“ wird, überhaupt haltbar?

Erste urkundliche Erwähnung im Jahr 1295
Die erste schriftliche Erwähnung (StA Würzburg, Standbuch 704, fol. 258 f., hier auch die meisten anderen Urkunden) datiert von 1295 April 26. Gräfin Adelheid von Rieneck samt ihren beiden Söhnen, dazu Ulrich von Hanau und Ludwig der Jüngere von Rieneck [- Rothenfels] (dessen Vormund der Hanauer ist), übergeben die Kapelle St. Elisabeth samt allen Zugehörungen den „Brüdern“, die bei dieser Kapelle leben, zu Eigentum. Diese sollen nun künftig nach der Regel des Ordens der Prämonstratenser leben, und nach ihrem Tod soll das Prämonstratenserkloster Oberzell bei Würzburg geeignete und ehrwürdige Brüder senden. Es gibt also bereits die Kapelle und dort lebende Betreuer. Somit ist schon die erste Aussage der Tafel 2 im Archäologischen Park falsch, es habe noch kein Kloster gegeben.

Wann und warum die Kapelle gebaut wurde, kann man nur vermuten. Die heilige Elisabeth von Thüringen wurde 1235 heiliggesprochen, ihr Kult verbreitete sich sehr schnell. Es ist anzunehmen, dass die Kapelle um 1260 gestiftet wurde: Graf Ludwig III. von Rieneck gab seiner um 1260 geborenen Tochter den Namen „Elisabeth“, die oben genannte Adelheid ist ihre Tante, und sie ist verheiratet mit Gerhard IV. von Rieneck. Dessen (nicht ganz sicheres) Todesdatum war 1294 oder 1295, die Übergabe an Oberzell „zur Sicherung des Seelenheils der Familie“ hat wohl mit Gerhards Tod zu tun.
Die Stiftung könnte sehr wohl mit der Geburt der Tochter Ludwigs III., Elisabeth, zusammenhängen: Sie scheint das älteste seiner Kinder zu sein, und ein männlicher Erbe scheint um 1260 noch zu fehlen. Dass die Entstehung sich auf „um 1220“ aufgrund von Funden datieren ließe (so Tafel 2), ist nicht belegbar: Welcher Fund sollte das sein, der sich so genau bestimmen ließe und auf die Gründungszeit hinwiese?
Die zentrale Aussage der Ausgräber ist aber: Die Anlage wurde 1333 weitgehend zerstört. Dies soll so abgelaufen sein: Die Grafen von Rieneck legten im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts eine Rodungsinsel an, die allmählich mit Bauten versehen wurde. Die Kernfunktion sei die „leibliche wie seelische Versorgung der Reisenden der Fernstraße“ gewesen. Kommentar: Die heute so genannte „Birkenhainer Straße“ war tatsächlich eine Fernverbindung zwischen dem Rhein-Main-Gebiet und dem mainfränkischen Raum und sie wurde wohl schon in prähistorischen Zeiten begangen. Nur: Wie oft? Wir wissen es nicht, es gibt kaum Quellen, aber man darf die Bedeutung keinesfalls überschätzen.
Einsiedel war kein Wirtschaftsstandort
Gleiches gilt für den auf der Straße laufenden Warenverkehr: Es gibt bei Gemünden am Aufstieg zur Birkenhainer zwar eine Zollstation, belegt erst im Hochmittelalter, doch sonderlich lukrativ scheint sie nicht gewesen zu sein. Das ASP macht nun Einsiedel zu einem „Wirtschaftsstandort“ an einem „Nadelöhr“ vor der Mainfurt bei Langenprozelten (von der man auch nicht weiß, wie intensiv diese frequentiert wurde). Das Bild auf Tafel 14 vermittelt einen völlig falschen Eindruck, hier sieht es wie zur Rushhour in Frankfurt aus.
Immerhin wurde im Bereich von Einsiedel erstmals die „Pflasterung“ der Straße entdeckt, wobei man sich fragt, wie weit die wohl reichte. Dass Einsiedel ein wichtiger (!) Rastort für Reisende gewesen sei, sozusagen ein „Wirtshaus im Spessart“, ist eine unbelegbare Vermutung. Wenn jemand übernachten wollte, hätte er auch noch die wenigen Kilometer nach Rieneck, Langenprozelten oder Gemünden zurücklegen können. Natürlich wird es aber so gewesen sein, dass mancher Reisende hier Rast machte.
Nun zur angeblichen Zerstörung des „Klosters“. Archäologisch gesichert ist, dass es einmal eine Brandkatastrophe gab, es fragt sich nur: Wann? 1333 erlosch die „Rothenfelser Linie“ der Grafen von Rieneck, und es kam zu Erbschaftsauseinandersetzungen, bei denen unter anderem durch Ulrich II. von Hanau (dem Sohn jener Elisabeth) auch Burg Partenstein erobert wurde. Im dortigen Brandschutt gefundenes Material soll mit solchem aus Einsiedel identisch sein.
Keinen Grund für eine Zerstörung
Allerdings ist es alles andere als zweifelsfrei, sogar eher sehr unwahrscheinlich, dass es in Partenstein zu einer massiven Zerstörung kam und der dortige Brandschutt mit 1333 in Verbindung zu bringen sei. Und selbst wenn: Nach Meinung des ASP soll Einsiedel zerstört worden sein, um das „Wirtschaftsimperium“ der Rienecker zu Fall zu bringen, der Straßenverkehr, angeblich „Wirtschaftszentren“ verbindend, sei in der Folge auch zum Erliegen gekommen. Ein solches „Imperium“ ist eine reine Fiktion, die Geschichte der Grafschaft Rieneck lässt ein solches in keiner Weise erkennen. Warum hätte Hanau eine Kapelle und Einsiedelei auch zerstören sollen? Dafür gab es keinerlei triftigen Grund.
Auch die schriftlichen Quellen sprechen absolut dagegen, dass nach 1333 eine Zäsur eintrat. Zwar sprudeln sie nach dieser Zeit weit weniger als zuvor, doch dürfte dies daran liegen, dass Einsiedel in erster Linie durch die Rothenfelser Linie unterstützt wurde, die eben ausgestorben war. Und Urkunden können schlichtweg verlorengegangen sein. Zudem war bis dahin viel Besitz an die Kapelle und ihre Pfleger geflossen, man konnte gut existieren.
Tafel 2 schreibt, es würden 1342 nur noch zwei Brüder für Einsiedel genannt und diese hätten wohl nur noch das Anrecht auf Erträge gehabt, ohne dort zu wohnen – nun, die Urkunde datiert von 1324, nicht 1342. In einer Urkunde, deren Datum nicht angegeben wird, sei zudem zu lesen, dass die Kapelle offenbar zerstört sei: was stimmt, doch stammt die zitierte Urkunde von 1538, als die Klausnerei wirklich nicht mehr besteht.
1410 übergeben die Oberzeller Prämonstratenser die Kapellenpflege an zwei Würzburger Dominikaner, kein Wort davon, dass sich etwas geändert habe, „aufgelöst“ wird das „Kloster“ mitnichten. Im beginnenden 16. Jahrhundert geht die Klausnerei dann wirklich zugrunde; ob das mit dem Bauernkrieg und/oder der Reformation zu tun hat, muss offen bleiben. Karten um 1584 zeigen die Anlage, es sieht aus, als seien die Gebäude nicht mehr intakt. Doch erst 1723 verkauft Oberzell seinen Besitz an private Hände.
Siegelstempel von Priester Heinrich
Was ist nun mit der Brandkatastrophe? Das bei weitem interessanteste Fundstück ist ein Siegelstempel, der einem um 1320 in den Einsiedel betreffenden Urkunden „Priester Heinrich“ zuzuordnen ist und der als „Procurator“ bezeichnet wird. Vom Namen her drängt sich der Verdacht auf, es könne sich um ein (illegitimes?) Mitglied der rieneckischen Grafenfamilie gehandelt haben, doch muss dies Spekulation bleiben. Der Fund ist aber logischer Weise für die Datierung des Brandes unbrauchbar. Dass die Eremiten relativ komfortabel wohnten, zeigen zwei Häuser, mit Steinfundamenten und Fußbodenheizung versehen. Angesichts der rauhen Verhältnisse der Lage ist das aber auch keine Besonderheit.

Das größte Rätsel Einsiedels ist der Friedhof. Im Kircheninneren wurden Skelette gefunden, die trotz sehr gründlicher Untersuchung auch noch manche Fragen aufwerfen, mehr aber noch die des nördlich der Kirche gelegenen Friedhofs von 140 Quadratmetern. Etwa 60 Individuen wurden ausgegraben, eine geschätzte Zahl von 150 bis 200 Menschen soll begraben worden sein. Das ASP geht davon aus, dass auf Einsiedel eine große Zahl von Menschen lebte, die den Wirtschaftsbetrieb aufrecht erhielten und dann dort auch beigesetzt wurden.
Nach 1333 sei der Friedhof nicht mehr benutzt worden, denn auf ihm liege jene Brandschicht, die nicht mehr oder nur sporadisch zur Anlage neuer Gräber durchstoßen worden wäre. Allerdings ist auch diese Annahme mit vielen Fragezeichen zu versehen. Viehzucht und Teichwirtschaft sind in Einsiedel festzustellen, aber wie viele Leute brauchte man wohl dafür? Einkünfte an Naturalien und Geld bezog Einsiedel aus den Schenkungen, die weitab lagen.
Ein Rätsel um die vielen Toten
200 Tote in einem Zeitraum von ein paar Jahrzehnten? Soweit zu lesen ist, wurden keine Untersuchungen vorgenommen, die Rückschlüsse auf das Sterbedatum der Personen erlauben würden. Die Grabgruben waren verhältnismäßig flach, lagen teilweise nur 40 Zentimeter unter der ursprünglichen Oberfläche. Sollte man da nicht lieber an einen Friedhof denken, der in Zeiten einer gesundheitlichen Katastrophe, etwa der Pest um 1350, angelegt worden war? Oder aus weit späterer Zeit stammt?

Zu noch vielen Aussagen über Einsiedel ließen sich kritische Bemerkungen machen, und Rätsel werden immer bleiben. Weder Spaten noch Feder können sie lösen. Aber das ist nun mal bei historischer Forschung so. Hüten sollte man sich nur davor, Theorien als Fakten zu vermarkten.
Wilhelm Hauff schuf bekanntlich mit dem „Wirtshaus im Spessart“ 1828 eine unterhaltsame Novelle, die das Bild vom Spessart bis heute in der Öffentlichkeit prägt. Dabei wusste Hauff aber sehr genau, dass es diese Räuberspelunke gar nicht gab. Genausowenig wie Einsiedel eine „bedeutende Raststation“ an der „ersten Spessartautobahn“ war. Einsiedel war nichts als eine beschauliche Klausnerei bei einer St. Elisabeth gewidmeten Kapelle, mit gelegentlichem Publikumsverkehr.
Sollte man nun den Inhalt der Tafeln ändern? Man sollte, man könnte, man wird es aber wohl nicht tun.
Zum Autor: Dr. Theodor Ruf ist Kreisheimatpfleger für den Altlandkreis Lohr, er schrieb zahlreiche Beiträge zur Geschichte der Region Main-Spessart. Seine Dissertation verfasste der Historiker über die „Die Grafen von Rieneck“.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter www.mainpost.de/geschichte_mspL.