„Dieses Büchlein dient einzig dem Zweck, am Beispiel des Gänserich Heinrich auf das Existenzrecht der Tiere und ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen“, schrieb Wolfram Kerger im Vorwort des Büchleins. Damals lebte der Ganter noch. Nach schönen Erlebnissen mit Heinrich und unschönen mit Mitbürgern wollte Kerger auf das Schicksal von Gössenheims letzter Gans aufmerksam machen und Spenden für ihr Altenteil sammeln.
Den Druck und die Herstellung des Büchleins trug der Rentner selbst; wer es wollte, sollte mindestens zwei Euro für Heinrich in eine Sammelbüchse werfen. 264 Euro kamen zusammen. Gebraucht wurden sie nicht mehr.
„Bitte gönnt mir dieses Fleckchen Erde, denn ich bin doch auch ein Geschöpf Gottes.“
Aufschrift eines Schildes an Heinrichs Garten
Auf den ersten Seiten beschreibt Wolfram Kerger das „liebenswerte Dorf“ Gössenheim, spekuliert, ob sich der Ortsname von Gössel („Gänschen“) ableitet und schildert, wie er auf Spaziergängen mit seinen Hunden den Vogel auf der Wern beobachtete und wie sich Mensch und Tier langsam einander näherten. Bald wartete der Ganter schon auf die morgendliche Fütterung durch den Mann, der schließlich bemerkte, dass der Vogel erblindet war und sich nur noch durch sein feines Gehör orientieren konnte.
Wolfram Kerger oder seine Frau Ulrike trafen sich jeden Morgen am Rand des Parkplatzes der Raiffeisenbank mit der Gans zur Fütterung. Anderthalb Jahre ging das so bis zum 19. Dezember 2007. Da war Heinrich, so hatte Kerger den Ganter längst getauft, „morgens zur Fütterung nicht da und auch einige Stunden später nicht“. Erst nach zwei Wochen erfuhr Kerger, dass Heinrich in Wernfeld sei. Dort hockte er abgemagert auf einem dünnen Stamm mitten im Fluss, hilflos durch seine Blindheit.
Suche nach einem Alterssitz
Mit Hilfe von zwei Gössenheimer Jungen fing der Rentner den Vogel ein und brachte ihn zurück. Das wiederholte sich in den nächsten Tagen noch zweimal, bis der Tierfreund den Grund für das Verschwinden herausfand: „Das Tor am Fluss, durch das er sein Leben lang seinen Nachtschlafplatz erreicht hatte, auch zuletzt in blindem Zustand, war seit einiger Zeit verschlossen.“
Nun machten sich der Rentner und einige Mitbürger daran, Heinrich einen Alterssitz zu verschaffen. Helga Theobald stellte einen Garten zur Verfügung, an den sich der Ganter auch gewöhnte – indes mochte sich ein Nachbar nicht an ihn gewöhnen. Der beschwerte sich wegen des nächtlichen „Trompe-tens“ der Gans, und dann wurde mehrfach in den Garten eingebrochen und der Vogel ausgesetzt. Wieder und wieder retteten ihn die Tierfreunde; auch ein Schild, das Wolfram Kerger aufgestellt hatte, half nicht: „Ich heiße Heinrich und bin 30 Jahre alt. Mein ganzes Leben habe ich in Gössenheim verbracht. Nun habe ich einen Platz für meine alten Tage gefunden, wo ich ohne Angst leben möchte. Bitte gönnt mir dieses Fleckchen Erde, denn ich bin doch auch ein Geschöpf Gottes.“
Damit der Gans nicht noch Schlimmeres passiert, bekam sie ein improvisiertes Gehege an der Dreschhalle, das allerdings so nicht geeignet war. Schließlich nahmen Alois Ehler und Uli Ammersbach den Ganter vorübergehend in einem offenen, umzäunten Schafstall auf. Dann stellte die Gemeinde die umzäunte Kläranlage zur Verfügung, wo Heinrich auf ungewisse Art – vielleicht durch einen Fuchs – ums Leben kam.
Wolfram Kerger mochte nicht nachforschen und sich auch den Ort der Tragödie nicht anschauen. „Ich habe es mir nicht angetan, über Heinrichs Ende zu spekulieren, da ich nichts mehr ändern kann. Meine einzige Hoffnung ist, dass es schnell ging und mein Freund nicht leiden musste.“
Spenden ans Tierheim
Stattdessen hat Kerger sein Büchlein, wie zuvor schon ein paar Mal, in neuen Auflagen um ein Kapitel ergänzt – in der diesmal letzten Version um einen Epilog. Die Spenden, die er für den Gänserich erhalten hatte – 264 Euro – reichte er ans Tierheim Lohr weiter. Der Schlusssatz lautet: „Ich denke gern an meinen Freund Heinrich.“
Fast scheint dem 68-Jährigen sein Mitgefühl für die alte Dorfgans peinlich, aber für ihn bedeutet Tierliebe auch Respekt vor Gottes Schöpfung. „Entschuldigen Sie, ich erschlage nicht mal Fliegen“, lächelt Wolfram Kerger und winkt ab: „Ich weiß: übertriebene Sentimentalität!“ Und dann setzt er hinzu: „Ich sammle auch Regenwürmer und Schnecken von der Straße.“
Zur Person
Wolfram Kerger Wolfram Kerger stammt aus Münster/Westfalen und ist gelernter Industriekaufmann. Die letzten 15 Jahre seines Berufslebens war er Korrektor bei der „Saale-Zeitung“ in Bad Kissingen. 1995 zog er mit seiner Frau für zwei Jahre nach Kanada. Dann kehrten die beiden zur Pflege seiner Schwiegermutter zurück. Seit knapp vier Jahren lebt das Ehepaar in Gössenheim. Wolfram Kerger hat insgesamt 13 Taschenbücher im Selbstverlag herausgegeben, zumeist Kurzgeschichten und sozial-kritische Romane, wenige Gedichte. Die Bücher druckt und bindet er selbst.