Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Main-Spessart
Icon Pfeil nach unten

Gräfendorf: Harter Lockdown für Main-Spessart? Das denkt Landrätin Sitter

Gräfendorf

Harter Lockdown für Main-Spessart? Das denkt Landrätin Sitter

    • |
    • |
    Landrätin Sabine Sitter musste die Amtsgeschäft einige Tage lang vom Home Office aus führen. 
    Landrätin Sabine Sitter musste die Amtsgeschäft einige Tage lang vom Home Office aus führen.  Foto: Elisabeth Sitter

    Plötzlich ging alles ganz schnell: Nach einem ruhigen, zeitweise sogar Corona-freien Sommer wurde Main-Spessart Ende November zum Hotspot in Unterfranken. Die Maßnahmen für einen Inzidenzwert von 200 waren kaum erlassen, da musste sich der Landkreis schon darauf einstellen, auch die Marke 300 zu erreichen. Landrätin Sabine Sitter erklärt im Interview, warum sie trotz sinkender Inzidenz noch nicht aufatmet.

    Frage: Wann dachten Sie zum ersten Mal – jetzt wird es ernst in Main-Spessart?

    Sabine Sitter: Für mich war der Punkt spätestens vergangene Woche Mittwoch erreicht, als klar wurde: Wir steuern auf einen Inzidenzwert von 290 zu. Da haben wir um 16 Uhr entschieden, dass wir jetzt eine Pressekonferenz abhalten müssen. Es war klar, wir sind mitten in der zweiten Welle, aber ich hatte den Eindruck, dass das in der Bevölkerung noch nicht angekommen war. Noch zwei Wochen zuvor hatten wir ja so niedrige Zahlen, dass die meisten Menschen ihr Leben fast normal leben konnten. Eine halbe Stunde später habe ich dann erfahren, dass ich nun selbst in Quarantäne muss.

    Die Inzidenz sinkt in den letzten Tagen wieder ein wenig. Atmen Sie jetzt also auf?

    Sitter: Das ist eine trügerische Sicherheit. Die Inzidenz wird wieder hochgehen. Wir müssen die Lage ganz genau im Auge behalten, weil die Inzidenz so um 300 "wabert" und dies der Grenzwert für noch einschneidendere Maßnahmen ist. Der Wert 300 wäre ein noch deutlicheres Signal für alle gewesen.

    Das heißt: Wenn es Ihnen möglich gewesen wäre, dann hätten wir jetzt den harten Lockdown wie im April?

    Sitter: Ja. Wir wären aufgrund der Infektionsschutzmaßnahmenverordnung sogar verpflichtet, solche weitgehenden Anordnungen zu treffen. 

    Die Verlängerung des bundesweiten Teil-Lockdowns könnte für viele Unternehmen dramatische Folgen haben, ein harter Lockdown in Main-Spessart bei Inzidenz 300 ohne Frage auch. Kann man sagen: Gesundheit schlägt Wirtschaft in Ihrer Abwägung?

    Sitter: (zögert) Bei der hohen Inzidenzzahl und den zunehmenden neuen Todesfällen täglich... Da fließen unterschiedliche Komponenten in solche Entscheidungen ein, da ist die Wirtschaft natürlich mit drin. Für mich spielen die Todesfälle eine große Rolle. Ich behaupte von uns allen im Amt, dass wir immer alle "Güter" im Blick haben. Wir versuchen, mit Maß und Verhältnismäßigkeit zu entscheiden, immer abhängig von der Lage. Gesundheit, Sicherheit und Demokratie sind die wichtigsten Faktoren.

    Ein Argument derer, die die Pandemie herunterspielen, ist oft: Die Zahl der Todesfälle sei kein guter Indikator, die meisten alten Menschen, die es trifft, seien schließlich vorerkrankt gewesen und hätten keine lange Lebenserwartung mehr gehabt.

    Sitter: Ich bin christlich sozialisiert und habe im sozialen Bereich gearbeitet. Für mich ist jedes Leben würdig und lebenswert. Das ist mein Grundmaßstab.

    Die Zahl der Infektionen in den Seniorenheimen ging in den letzten Wochen drastisch hoch. War es ein Fehler, nicht wie im ersten Lockdown sofort jeden Besuch zu verbieten?

    Sitter: Das war keine Fehlentscheidung. Der Mensch wollte seine Selbstbestimmung zurück, das hat man in den letzten Monaten deutlich gespürt. Ich bekomme Briefe von Angehörigen, die ihre Eltern unbedingt wieder im Heim besuchen wollten – und gleichzeitig Nachrichten von Angehörigen des Pflegepersonals, die sagen: Schützen Sie meine Frau und meine Kinder. Vergangene Woche haben wir hier gesagt, Schluss jetzt, das Risiko wird zu hoch. Deswegen haben wir dieses strenge Besuchermanagement verfügt.

    Es gab Heime in anderen Landkreisen, die in der ersten Welle Infektionen im Haus hatten und deswegen jetzt sofort zugemacht haben. Wir waren im Frühjahr nicht betroffen und haben jetzt lange Besuche uneingeschränkt zugelassen. Ich erwarte jetzt von den Bürgern, dass sie diese Entscheidung mittragen und bei Besuchen die strikten Regeln befolgen.

    Im ersten Lockdown hat die Bundesregierung schnell alle Entscheidungen getroffen; in der zweiten Welle sind plötzlich die Landkreise in der Pflicht. Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen da der Schwarze Peter zugeschoben wurde?

    Sitter: (zögert) Nein. Dieses negative Gefühl habe ich nicht. Ich bin mir der Verantwortung bewusst. Ich trage sie auch nicht alleine, ich habe ein Team und wir sind in ständigem Austausch mit der Regierung von Unterfranken. Man kann diese Verantwortung gut tragen, wenn man die Güterabwägung gemeinsam macht.

    Die ungenehmere Seite ist, dass wir auch aus München immer sehr kurzfristig informiert werden. Das bringt die Pandemie mit sich. Zum Beispiel: Letzte Woche Donnerstag kam die Hotspot-Strategie aus München, da haben viele Bürger schon Maßnahmen von mir erwartet. Wir mussten aber auf die Infektionsschutzmaßnahmenverodnung warten, die Rechtsgrundlage für die Maßnahmen ist, die erst am Montag kam. Das kann man der Bevölkerung aber nur schwer deutlich machen. Alle sagen: Hätten Sie das nicht eher kommunizieren können?

    In Leserbriefen und Kommentaren im Internet konnte man schon Fragen lesen wie: "Wo ist eigentlich die Landrätin in dieser ernsten Situation?"

    Sitter: Zum einen nehme ich die Kontaktbeschränkungen sehr ernst: Ich bin meinen Terminkalender durchgegangen und habe geschaut, welcher Präsenztermin ist ist unaufschiebbar, welcher nicht. Ich gehe seit vier Wochen zu keinem Spatenstich mehr, wo ich mit sieben Leuten zum Foto zusammenstehen muss. Darauf kann man in dieser Zeit verzichten. Das wäre ein falsches Zeichen nach außen.

    Zum anderen: Ich war viel mit hausinterner Kommunikation beschäftigt. Mein Team musste sich erst einmal darauf einstellen, dass sie jetzt eine Landrätin haben, die hohen Wert auf mündliche Kommunikation legt. Das habe ich im letzten halben, dreiviertel Jahr aufbauen müssen. Mir ist aber klar: Ich muss jetzt verstärkt die Öffentlichkeit einbinden. Deswegen war mir auch die Pressekonferenz vergangene Woche wichtig.

    Umfragen zufolge würden sich nur 53 Prozent der Deutschen impfen lassen (Quelle: Redaktionsnetzwerk Deutschland). Hand auf's Herz: Würden Sie sich in der ersten Runde impfen lassen?

    Sitter: (zögert) Meine Familie und ich sind grundsätzlich geimpft. Mein Körper reagiert auf Impfungen immer recht heftig. Aber wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen wollen, kommen wir um Impfungen nicht herum. Da muss die Akzeptanz in der Bevölkerung hergestellt werden, da bin ich dann Vorbild und werde mich impfen lassen.

    Wenn Sie sehen, wie viele Menschen sich im privaten Umfeld anstecken – fühlen Sie sich manchmal hilflos? Schließlich wird ihre Arbeit als Landrätin auch an den Infektionszahlen gemessen.

    Sitter: Der private Bereich zuhause liegt nicht in meinem Einflussbereich. Ich mache eine Güterabwägung und ich habe Rechtsgrundlagen, an die ich mich halten muss. Die persönliche Freiheit der Menschen und die Unverletzlichkeit der Wohnung muss ich auch akzeptieren. Das habe ich von Anfang an gesagt: Die Pandemie hat viel, nein, ausschließlich mit Eigenverantwortung zu tun. Die Verantwortung möchte ich den Menschen lassen – so lange, bis ich sie nicht mehr mittragen kann. Das sind Grundrechte der Demokratie, die Politik schützen muss. 

    Trotzdem kommen regelmäßig Menschen auf dem Karlstadter Marktplatz zusammen, die ihre demokratischen Grundrechte verletzt sehen. 

    Sitter: Als Landrätin ist es mein Job, die Anordnungen der Staatsregierung umzusetzen. Das nehme ich ernst. Ich werde mich nicht auf den Marktplatz stellen und etwas diskutieren, das im Moment nicht diskutierbar ist, weil es Recht ist und nicht zur Disposition der Landräte steht. Punkt.

    Ich hab den Demonstranten im Sommer, als die Infektionszahlen niedrig waren, ein Gespräch angeboten – das haben sie nicht wahrgenommen. Als jetzt die Inzidenz hoch ging, wollten sie mit 15 Personen zu mir kommen. Das mache ich jetzt nicht mehr, und ich stelle mich auch jetzt nicht auf den Marktplatz und lasse mich vorführen. Dann halte ich es eben aus, dass die Demonstranten zwei Stunden vor meinem Büro mit Töpfen klopfen. Aber ich nehme den Protest wahr und nehme ihn in meine Güterabwägung mit auf.

    Sie sprechen oft von "Güterabwägung". Wird das das Unwort des Jahres 2020?

    Sitter: (lacht) Das sage ich im Moment ziemlich häufig, das stimmt. "Unaufgeregt" ist das Wort, mit dem mich mein Krisenstab immer aufzieht, weil ich es so oft sage.

    Hätten Sie vor einem Jahr gewusst, was in diesem ersten Jahr als Landrätin auf Sie zukommt - wären Sie trotzdem zur Wahl angetreten?

    Sitter: Ja. Mir war von Anfang an klar, dass Landrätin ein verantwortungsvoller Job ist. Ich habe für mich da eine sehr genaue Güterabwägung gemacht.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden