Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Main-Spessart
Icon Pfeil nach unten

Lohr: Lohr: Wie das Märchen "Schneewittchen" Geschichte schrieb

Lohr

Lohr: Wie das Märchen "Schneewittchen" Geschichte schrieb

    • |
    • |
    Die 2013 installierte Silhouette von Schneewittchen und den sieben Zwergen des Grafikers Jan Peter Kranig.
    Die 2013 installierte Silhouette von Schneewittchen und den sieben Zwergen des Grafikers Jan Peter Kranig. Foto: Roland Pleier

    Es war einmal. Mit dieser Phrase beginnen Märchen, wie sie Jacob und Wilhelm Grimm vor 200 Jahren gesammelt haben. Dass sie einstmals fortgeschrieben würden, haben sich die Brüder damals sicher nicht ausgemalt. In Lohr – nur 50 Kilometer entfernt von Steinau, wo sie aufwuchsen – hat das Märchen Geschichte geschrieben. Eine höchst amüsante zumal.

    Dafür gesorgt haben zunächst drei gewitzte Stammtischbrüder – ein Apotheker, ein Schuhmacher und ein Museumsdirektor. In der Folge ein phantasievoller Künstler aus Laudenbach, der den mutmaßlichen ersten Kunstwettbewerb der 15 000-Einwohner-Stadt gewonnen hat und schließlich ein damals 17-jähriger Gymnasiast, der mit Hilfe eines Weinkartons und einer Sprühdose eine heftige Kontroverse beendete.

    Kapitel eins: Niedergeschrieben vor mehr als 200 Jahren

    Doch der Reihe nach. Kapitel 1 schreiben die Brüder Grimm: In der ersten Auflage ihrer Sammlung von Kinder- und Hausmärchen, 1812 veröffentlicht, reiht sich Schneewittchen als Nummer 53 von 86 Märchen ein. Es avanciert zu einem der bekanntesten Märchen der Welt, vielfach erzählt und (vor-)gelesen, später vertont (ab 1859) und verfilmt (ab 1916).

    Kapitel zwei: Verortet mit fabulologischer Gewitztheit

    Kapitel 2 folgt anno 1986: An ihrem Stammtisch in der holzgetäfelten Wirtsstube des Weinhauses Mehling machen sich drei Männer Gedanken über die Zukunft ihrer Stadt. Apotheker Karlheinz Bartels, Schuhmachermeister Helmuth Walch und Museumsleiter Werner Loibl wagen an sich Ungeheures: Das weinselige Dreigestirn verortet das Märchen Schneewittchen mit "fabulologischer" Gewitztheit in Lohr.

    Dabei kommt jenem Spiegel, der einen Stock über ihnen in der Diele hängt, eine zentrale Rolle zu. Der Spruch „Amour Propre“ („Selbstliebe“), der in dem Medaillon am oberen Rahmen steht, macht ihn zum sprechenden. Der Spiegel wurde 1720 in der Kurmainzischen Spiegelmanufaktur in Lohr gefertigt, die als staatlicher Betrieb unter der Oberaufsicht von Philipp Christoph von und zu Erthal stand. Der war kurmainzischer Amtmann, lebte im Lohrer Schloss und war zweimal verheiratet. Somit guckte der promovierte Pharmaziehistoriker Bartels die 1725 geborene Maria Sophia Margaretha Catharina von Erthal als potenzielles Schneewittchen aus.

    Darüber hinaus finden die drei Stammtischbrüder reichlich weitere Belege, die im Märchen eine Rolle spielen: Der gläserne Sarg: fabriziert in Glashütten des Spessarts. Die eisernen Pantoffel: in hiesigen Eisenhämmern gefertigt. Der Spessart als jener Wald, in dem Schneewittchen ausgesetzt wird. Der Höhenweg „Wieser Straße“ führt über sieben Berge zu den Bergwerken von Bieber, wo Kleinwüchsige mit kapuzenähnlichen Gewändern (die Zwerge!) Kupfer, Silber, Blei, Eisen und Kobalt abbauten. Der im Märchen vergiftete Apfel war natürlich einer der Sorte Lohrer Rambour. "Wenn es Schneewittchen tatsächlich gegeben haben sollte", so die steile These des Triumvirats, "dann muss sie eine Lohrerin gewesen sein."

    Lohr als Heimatstadt Schneewittchens sorgt bundesweit für Schlagzeilen. Die Konkurrenten Alfeld bei den Sieben Bergen im südlichen Niedersachsen, Kassel und das mittelhessischen Dorf Langenbach können mit der Fülle von Belegen nicht Schritt halten. Die Stadt Lohr verschreibt sich voll und ganz dem Schneewittchen-Marketing.

    Kapitel drei: Weit entfernt von der Bilderbuch-Schönheit

    Knapp drei Jahrzehnte gehen ins Land, da eröffnet der hohe Rat der Stadt das dritte Kapitel: Er will der touristischen Symbolfigur auch ein Denkmal setzen, schreibt einen Kunstwettbewerb aus, ohne die Kosten für das Kunstwerk zu deckeln. Als das Siegermodell des Laudenbacher Bildhauers Peter Wittstadt der Öffentlichkeit vorgestellt wird, kommt es zum Aufruhr: Sein Entwurf ist mit der idealisierten Bilderbuch-Schönheit so gar nicht in Einklang zu bringen. Mit dem unförmigen Körper, den kurzen Ärmchen, den Glubschaugen und den fliegenden Rasta-Zöpfen kritisieren Einheimische die Skulptur als Ausgeburt der Hässlichkeit.

    Eine moderne Schneewittchen-Statue des Künstlers Peter Wittstadt steht seit August 2017 vor der Stadthalle in Lohr. Als "Horrorwittchen" wurde die Figur zwischenzeitlich tituliert.
    Eine moderne Schneewittchen-Statue des Künstlers Peter Wittstadt steht seit August 2017 vor der Stadthalle in Lohr. Als "Horrorwittchen" wurde die Figur zwischenzeitlich tituliert. Foto: Karl-Josef Hildenbrand

    Und dann soll die Umsetzung des Modells in eine drei Meter hohe Bronzestatue auch noch über 100 000 Euro kosten. Die Erregung steigt, als im November 2014 erste Fotos veröffentlicht werden: Der Künstler arbeitet an seinem weißen Gipsmodell in Originalgröße. Der Kunstskandal kocht hoch und lockt Journalisten scharenweise in die Kleinstadt am Main.

    Der Sturm der Entrüstung hält wochenlang an. Er beschäftigt Schnüdel (Zugezogene), Mopper (hier Geborene) und Medien, aber auch Daniel Freitag, seines Zeichens Kunstlehrer am Lohrer Gymnasium. Nichtsahnend leitet dieser zum vierten Kapitel der Lohrer Geschichte über.

    Kapitel vier: Schüler begegnet Schmähungen mit humorvollem Graffito

    Der Kunststreit, so der Lehrer, ist doch gefundenes Fressen für das Additum seiner Schüler, die Kunst als Abiturfach gewählt haben. Einer von ihnen ist Valentin Lude, 17 Jahre alt. Er kennt das Modell der Wittstadt'schen Figur, die Fotos, versteht sie zwar nicht ganz, findet sie aber "cool". Wittstadt habe den Preis legitim gewonnen, hat er verfolgt und findet es nicht okay, wie öffentlich über die Skulptur gelästert, sie ins Lächerliche gezogen wird. Den Schmähungen seines Künstlerkollegen Wittstadt will er nun etwas entgegensetzen – nichts Bösartiges, etwas Lustiges.

    Gelegenheit dafür hat er wenig später. Am 30. November steht eine Sprühaktion des Jugendzentrums an, wo "Valle" seit vier Jahren aktiv ist: Die Stadt hat frisch geweißelte Wände in der Unterführung zwischen Friedhof und Bauhof dafür freigegeben. Es ist kalt. Mit klammen Fingern machen sich drei Jugendliche an ihre Werke.

    Das Graffito Horrorwittchen von Valentin Lude in der Unterführung zwischen Hauptfriedhof und Wombach, mit einer Plastiktafel geschützt.
    Das Graffito Horrorwittchen von Valentin Lude in der Unterführung zwischen Hauptfriedhof und Wombach, mit einer Plastiktafel geschützt. Foto: Roland Pleier

    Das Graffito, mit dem er an sich nur sein Hauptwerk garniert, setzt Lude ganz bescheiden und nur schwarz auf weiß links unten ins Eck. Die zündende Idee dafür hat er erst am Abend zuvor in einer kleinen Skizze festgehalten, die Schablone am Morgen gefertigt: Aus einem dicken, welligen Weinflaschenkarton hat er drei Zwerge herausgeschnitten, dazu die Umrisse des Wittstadt'schen Horrorwittchens mit - in Abwandlung des Originals - einem erhobenen Arm und Messer in der Hand.

    Keine drei Tage später erscheint das Foto in den Lokalzeitungen, wird das Graffito in der Lohrer Facebook-Gruppe "Ob Mopper oder Schnüdel ..." begeistert gefeiert und schließlich über die Deutsche Presseagentur auch deutschlandweit verbreitet. "Chapeau, das ist eine intelligente Reaktion. Die gefällt mir. Der Graffiti-Künstler hat das Kunstwerk sehr gut interpretiert", wird Kunst-Professor Ottmar Hörl den Lohrer Graffiti-Künstler später würdigen.

    Lude selbst hält sich öffentlich zurück. Er steckt im Abi-Stress, blockt Interview-Anfragen ab. Während 45 Lohrer im Dezember noch darüber diskutieren, was Kunst ist, was Kunst (kosten) darf und was sie kann, wird Ludes kleines Kunstwerk im Handumdrehen Kult, fliegen dem "Horrorwittchen" flugs die Herzen der Lohrer zu. Die Zeit ist reif für das fünfte Kapitel.

    Kapitel fünf: Das Howilo wird Kult

    Matthias Mehling, Sproß aus besagtem Weinhaus, ist es, der es maßgeblich schreibt. An sich will er nur wenige T-Shirts für einige spontan begeisterte Mitglieder der Facebook-Gruppe mit dem Graffito bedrucken lassen. Doch der Plan schlägt Wellen, die Zahl der Bestellungen schnellt nach oben. Mehling hat alle Hände voll zu tun, beteiligt Lude und das Jugendzentrum am Ertrag aus dem Verkauf und verschickt ab Januar 2015 T-Shirts in alle Welt.

    Das Sortiment mit Horrorwittchen-Graffitos wächst rasch. 
    Das Sortiment mit Horrorwittchen-Graffitos wächst rasch.  Foto: Silvia Gralla

    Nicht genug damit. Das Sortiment "Howilo" (Horrorwittchen Lohr) wächst rasch an: Mehling verkauft Tausende von T-Shirts und Hoodies, befreundete Geschäftspartner bieten Mützen, Umhängetaschen, Unterhosen, Uhren und Tassen an. Howilo-Aufkleber zieren Autos von Exil-Lohrern - ob in Berchtesgaden, Australien oder den USA.

    Hermann Hutzel lässt sich die Figuren aus Metall fertigen und arrangierte sie an seinem Anwesen in der Grabenstraße als Zaun. Mehling bringt eine ähnliche Inszenierung, grün beleuchtet, an seinem Weinhaus neben dem Alten Rathaus an.

    Hatte schon der "Kunststreit" Journalisten in Scharen in die Stadt gelockt, so wiederholt sich dies durch den Siegeszug des Howilo und schließlich ein weiteres Mal, als Wittstadts Skulptur im Oktober 2016 später endlich in Bronze vor der neuen Stadthalle in Lohr aufgestellt wird.

    Der Bürgermeister reibt sich nicht nur die Hände ob des mehrfachen medialen Marketing-Erfolgs. Die Stadt weiß inzwischen auch das Graffito zu schätzen: Mehrfach übermalt, übersprüht, beschmiert und erneuert wird das Original in der Unterführung durch eine durchsichtige Plastiktafel geschützt. Die Schablone dafür ist ja immer noch in Ludes Hand.

    "Und wenn sie nicht gestorben sind ..."

    "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute." So enden viele Märchen gleichlautend, analog zur Eingangsphrase. Gestorben sind die historischen Frauen, die sich Kassel und Lohr als potenzielle Schneewittchenfiguren aus ihrer jeweiligen Heimatgeschichte herausgepickt haben. Natürlich waren beide wohlhabend und hatten Stiefmütter. Grafentochter Margaretha von Waldeck (1533–1554) soll tatsächlich schön gewesen und als 16-Jährige an den kaiserlichen Hof von Brabant nach Brüssel geschickt worden sein, um dort standesgemäß verheiratet zu werden. Doch wurde sie krank und starb – womöglich vergiftet - im Alter von 21 Jahren.

    In Lohr streiten sie die Experten zwar noch um das genaue Geburtsdatum ihres Schneewittchens im Jahr 1725. Woran die Quellen aber keine Zweifel lassen: Maria Sophia erblindete schon als Jugendliche in Folge einer Pockenerkrankung, lebte dann bei zwei Brüdern in Mainz und schließlich 50 Jahre lang im Institut der Englischen Fräulein, wo sie "ledig Standes" – laut Gedenkstein " just an ihrem 71. Geburtstag – starb. Beerdigt wurde sie allerdings nicht in einem Glassarg: Die englischen Fräulein bezahlten 14 Taler für einen Sarg aus Eiche.

    Was die jüngeren Lohrer Geschichten angeht, trifft beides zu: Die drei Fabulologen, die das Märchen in der Stadt verankert haben, ruhen inzwischen in Frieden. Valentin Lude jedoch ist quicklebendig. Zur Abschlussprüfung seiner Industrie-Design-Studiums an der Folkwang-Universität der Künste in Essen trat er vor wenigen Wochen – natürlich – mit einem Horrorwittchen-T-Shirt an. Jetzt entwirft der Mann, der den Lohrer Kunststreit mit einem Graffito befriedet hat, Möbel für einen Betrieb in Niederbayern.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden