Marina Holaschke steht neben ihrem Patienten, stabilisiert dessen Hüfte, streckt sein Bein – eine klassische Physiotherapiestunde, möchte man meinen. Doch der Patient sitzt nicht wie gewohnt in einem Praxisraum, sondern auf Balou. Der kastanienbraune Wallach schreitet gelassen den Feldweg oberhalb des Reitstalls Gold in Gössenheim entlang, unbeeindruckt von den Geschehnissen auf seinem Rücken. Weil Balou geführt wird, kann sich Marina Holaschke voll und ganz auf ihren Patienten konzentrieren.
Was die 24-Jährige gerade macht, ist eine ganz besondere Art von Physiotherapie: Man nennt das „Hippotherapie“. Die rhythmische Bewegung des Pferderückens wird dabei genutzt, um Bewegungsstörungen des Patienten zu verbessern. „Zum Gehen braucht der Mensch Rumpfstabilität und das mobile Becken. Die Fortbewegung des Pferdes überträgt sich auf unser Becken und um diese Bewegung steuern zu können, brauchen wir einen stabilen Rumpf“, erklärt die Therapeutin. „Menschen mit einer Bewegungsstörung kann so auf dem Rücken des Pferdes auf natürliche Weise geholfen werden.“
Mit Hilfe von Hippotherapie kann die Karlstadterin Patienten mit einem neurologischen Krankheitsbild – wie Multipler Sklerose, einem Schlaganfall oder einer Halbseiten-Lähmung – behandeln. Aber auch pädiatrische Krankheiten von „Syndrom“-Kindern, Entwicklungsverzögerungen und orthopädische Krankheitsbilder wie Skoliose oder Rückenschmerzen sind mit Hilfe des Pferdes therapierbar. „Im Moment behandle ich einen dreijährigen Jungen, der eine Spina bifida (einen offenen Rücken; Anm. d. Red.) hat“, erzählt Holaschke. „Ich habe gerade mit einer Rumpfstabilisierung begonnen, um die Haltung des Jungen zu verbessern und ihm ein Gefühl für das Pferd zu geben.“
„Pferde geben uns die Flügel, die wir nicht haben.“
Marina Holaschke, Hippotherapeutin
Seit November bietet Marina Holaschke am Reitstall Gold in Gössenheim die Hippotherapie an. Sie selbst sitzt seit ihrem fünften Lebensjahr auf dem Pferd – deshalb lag es für sie auf der Hand, nach ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin Beruf und Leidenschaft zu vereinen. „Wenn man mit Pferden arbeitet, merkt man recht schnell, wie wichtig Körpersprache und Haltung sind. Deshalb sind Pferde für die Physiotherapie, aber auch für die Verhaltenstherapie, perfekt geeignet.“
Ihre Hippotherapeuten-Ausbildung legte Marina Holaschke nach dem Schweizer Konzept von Ursula Künzle in Stuttgart ab. In der Schweiz und in Österreich ist die Hippotherapie eine weit verbreitete Art der Physiotherapie. In Deutschland ist dies noch nicht der Fall, weshalb diese Form der Therapie auch meist nur von privaten Kassen übernommen wird.
Dabei kann die Hippotherapie klare Erfolge vorweisen. „Das Nervensystem braucht natürlich Zeit, um sich zu verändern. Das kann von Patient zu Patient unterschiedlich sein. Aber der Erfolg, das heißt, eine Verbesserung oder zumindest eine Verlangsamung des Krankheitsbilds, bleibt nicht aus.“ So kann man nach einiger Zeit beim Patienten Verbesserungen in Sachen Symmetrie, Gleichgewicht, Sitzbalance und Reaktionsfähigkeit der Muskulatur beobachten. Und auch die Rumpfmuskulatur wird, wie beim menschlichen Gehen, aktiviert. Mit einer Frequenz von 120 Schritten pro Minute simuliert das Therapiepferd den Rhythmus des menschlichen Ganges. Balou hat genau diese Schrittfrequenz und erfüllt mit einer Größe von 1,35 Metern und einer hohen Tragfähigkeit die Anforderungen, die ein Hippotherapie-Pferd mitbringen muss. Aber nicht nur die Maße sind wichtig: „Das Pferd muss einen starken Charakter haben und ruhig sein. Das habe ich mit Balou und Nazir mit Bodenarbeit und Schrecktraining erarbeitet.“
Bei der Hippotherapie ist Balou Marina Holaschkes treuer Begleiter – Nazir ist zuständig für die Verhaltenstherapie. Denn neben funktionellen Störungen können auf dem Pferderücken auch Patienten mit psychischen Problemen therapiert werden. „In der Verhaltenstherapie führe ich das Pferd. Der Patient soll sich vom Pferd tragen lassen, Vertrauen aufbauen und mit sich, dem Pferd und der Natur um ihn herum in Einklang kommen“, erklärt Marina Holaschke. Verhaltenstherapie findet übrigens nicht immer nur auf dem Pferderücken statt, sondern auch vom Boden aus. So bekommen die Patienten ein Gefühl für die eigene Körpersprache.
Mitten in der Natur eine Therapiestunde – das ist schon etwas Besonderes. Und es trägt auch zum Erfolg der Therapie bei, findet Marina Holaschke: „Mit meiner Arbeit möchte ich Menschen Lebensqualität zurückgeben. Denn Pferde geben uns die Flügel, die wir nicht haben.“
Hippotherapie
Marina Holaschke behandelt am Reitstall Gold neurologische, pädiatrische, orthopädische und psychische Krankheitsbilder auf ihren Pferden Balou und Nazir. Eine Hippotherapie-Stunde mit der gelernten Physiotherapeutin dauert je nach Belastbarkeit des Patienten ungefähr 25 bis 30 Minuten. Marina Holaschke bietet die Therapie am Freitag und Samstag oder nach Vereinbarung an. Im Winter finden die Übungseinheiten in der Halle am Reitstall statt. Anfragen beantwortet die Karlstadterin telefonisch unter Tel. (01 70) 2 43 76 48 oder per E-Mail: hippotherapie.marinaholaschke@web.de