Im Raum ist es kühl und um 19 Uhr bereits schon dämmrig. Einzig eine dicke, orangefarbene Kerze in der Tischmitte erhellt die Gesichter der Männer, die an den Seiten Platz nehmen und einen Obolus in den Hut werfen, der neben der Kerze auf dem Tisch liegt. Davon kauft die Gruppe unter anderem die Getränke, die auch heute auf dem Tisch stehen: Ausnahmslos anti-alkoholisches wie Apfelsaftschorle, Wasser, Cola. Während die ersten Deckel zischend aufgehen, liest Bernd die Präambel. „. . . unser Hauptzweck ist nüchtern zu bleiben und anderen Alkoholikern zur Nüchternheit zu verhelfen“, endet er.
Seit 1953 gibt es die Anonymen Alkoholiker in Deutschland – die internationale Gesamtorganisation bringt es in diesem Jahr auf 80 Jahre (siehe Infokasten). Ein Jubiläum, das die AA-Gruppe in Gemünden zum Anlass nimmt, über das Thema „Alkoholsucht“ zu reden. Und: Das Prinzip Anonyme Alkoholiker vorzustellen. „Trocken kann ich womöglich auch woanders werden“, sagt Bernd (alle Namen von der Redaktion geändert). „Nüchtern bleiben und die Dinge nüchtern sehen nur hier.“
Sieben bis acht Leute sind normalerweise in der Gruppe – Frauen wie Männer. Sie kommen aus dem Raum Main-Spessart und von weiter her. Ein Teilnehmer reist einmal die Woche aus Aschaffenburg an. Jede Sitzung hat einen rituellen Ablauf: Nach der Präambel lesen alle Anwesenden abwechselnd die Zwölf Prinzipien. Danach geht es in die Einzelgespräche.
„Ich bin Thomas und bin und bleibe Alkoholiker“, stellt sich der erste vor. „Hallo Thomas!“ wird er vom Rest der Gruppe begrüßt. Normalerweise legt an diesem Abend jeder selbst fest, über was er sprechen will. Aktuelles, Vergangenes, Zukünftiges. An diesem Tag aber wollen die AA-Mitglieder ihre ganz persönliche Geschichte erzählen. Berichten, wie der Alkohol in ihr Leben kam, was er darin anrichtete und wie sie heute damit leben.
• Als trauriges Familienerbstück erlebte Thomas seinen Werdegang zum Alkoholiker. „Mein Vater und Schwiegervater waren Alkoholiker und eigentlich wollte ich nie so werden wie sie“, erzählt er. Es kam aber doch so. In Kombination mit Medikamenten entfaltete der Alkohol bei ihm noch größere Wirkung. Acht bis neun Jahre lang habe er getrunken. Immer darauf bedacht, dass es nicht auffällt. „Ich bin nachts mit der Katze spazieren gegangen, um ungestört zu trinken“, beschreibt er. „Ich habe trinken müssen – das kann keiner verstehen.“
Einen Schlüsselmoment gab es bei Thomas nicht. „Ich bin von einer Entgiftung in die nächste“, erzählt er. Erst in der Gruppe der Anonymen Alkoholiker merkte Thomas: Du bist nicht allein. Du gehörst wo dazu. Und er merkte, dass er bisher ein Leben führte, das ihm gar nicht entsprach. „Das gut bürgerliche, das ist nicht meins, ich bin eher flippig“, erklärt er. Getraut, so zu leben, habe er sich aber nicht. Die Sehnsucht, anders zu sein, wurde befriedigt durch den Rausch – dem die Ernüchterung folgte.
Als Lebenshilfe bezeichnet er das Programm der Anonymen Alkoholiker. Ebenso hilft ihm der Leitsatz: Trocken bleiben, nur bis zum Ende dieses Tages. „Ich weiß mittlerweile, dass ,Ich habe nicht getrunken‘ und ,Ich bin glücklich‘ zusammengehören.“
• Sein Alkoholproblem hat Klaus seit er 13 Jahre alt ist. Im Laufe der Zeit verlor der gelernte Ingenieur nicht nur viel Geld, sondern auch seinen Job und seine Familie. Geholfen haben ihm die Anonymen Alkoholiker erstmals in den USA, wo er studierte und arbeitete. „Dort werden von früh morgens bis spät abends Meetings angeboten“, erzählt er. Auf der Suche nach einem neuen Job sei es dort sogar ein Türöffner, zu sagen, man komme von den Anonymen Alkoholikern. „Denn die Leute verbinden damit Ehrlichkeit und Konsequenz“, so Klaus.
Wieder in Deutschland stellte man fest, dass er manisch-depressiv ist. Die Diagnose war ein Segen. Mit den entsprechenden Medikamenten eingestellt, wurde auch das Alkoholproblem besser. So gut, dass Klaus an diesem Abend freudestrahlend erzählt, dass er nach dreieinhalb Jahren Arbeitslosigkeit endlich wieder einen Job gefunden hat. •„Wer keinen Rausch hatte, der ist kein Mann“, durch diese Worte des Großvaters legitimiert begann Bernd als 13-Jähriger zu trinken. „Mich hat der Alkohol nicht aggressiv gemacht, sondern ich war gesellig und gut drauf“, beginnt der letzte der Gruppe seine Geschichte. Im Studium sei Alkohol in Maßen zu Mittag nicht unüblich gewesen. Dann kam die Heirat und: ein Job im Weinhandel.
„Später habe ich mich selbstständig gemacht, ein Haus gebaut“, berichtet er. In dieser Zeit wurde der Alkohol zum Problemlöser. Denn er hatte sich überschuldet, die Bank machte Druck. Für die ersten paar Minuten ließ sich so die Realität besser ertragen. „Ich habe die Kinder in die Schule gebracht und danach den ersten Doornkaat getrunken“, sagt er. Er begann eine Psychotherapie – ohne Erfolg. Er kam zu den Anonymen Alkoholikern – und machte den Fehler, sich mit den anderen zu vergleichen. „Ich habe siebeneinhalb Jahre versucht, ein Jahr nüchtern zu bleiben und es nicht geschafft.“
Sein Schlüsselmoment traf ihn unvorbereitet, aber mit Wucht: „Eines Abends hat sich plötzlich alles überschlagen: Mir wurde das Geld für ein Projekt abgesagt und meine Frau warf mich zuhause raus“, erzählt Bernd. Er brach zusammen – um im nächsten Moment wieder aufzustehen. Er bekam ein unerwartetes Job-Angebot, daraufhin ließ sich die Bank auf Verhandlungen ein. Bernd hat wieder in ein strukturiertes Leben gefunden. Ihm geht es gut. Er weiß aber auch, er ist und bleibt Alkoholiker. Für ihn eine Krankheit, die er zwar zum Stillstand bringen, aber nicht heilen kann. „Das Problem ist der Kontrollverlust: Viele können trinken und aufhören – ich nicht.“
Das Programm der Anonymen Alkoholiker war für ihn wie eine Lebensschule. Die Gruppe eine Gemeinschaft, in der er gelernt hat, sich wieder sicher im Leben zu bewegen. Dazu zitiert er ein Gebet: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Auch in den Zwölf Schritten der AA spielt Gott, das Gebet und die Besinnung eine Rolle. Wie wird das wahrgenommen? „Das Spirituelle gehört dazu“, erklärt Bernd.
Die Auslegung sei jedoch unterschiedlich: Der eine glaubt an Gott, der andere an eine höhere Macht. Der eine bedankt sich und dem anderen ist einfach nur wichtig, dass es jemanden gibt, an den man sich wenden kann.
Geschichte und Hintergrund zu den Anonymen Alkoholikern
Im Jahr 1935 stellten der New Yorker Börsenmakler Bill W. und der Arzt Dr. Bob S. fest, dass der Alkohol ihr Leben ruiniert hatte. Ein Zufall führte sie zusammen und sie begannen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Dabei merkten sie, dass sie die Probleme des anderen besser verstanden, als dies ihre Familien, die Freunde oder Ärzte konnten. Aus dieser Keimzelle entstand eine weltweite Gemeinschaft. Allein in Deutschland gibt es rund 2000 ,,Meetings“, in denen trocken gewordene Alkoholiker ihre Erfahrungen weitergeben und Menschen zur Seite stehen, die vom Alkohol loskommen wollen.
Bei den Anonymen Alkoholikern gilt das Anonymitätsprinzip. Es dient dem persönlichen Schutz aller, die sich dazu bekennen, alkoholkrank zu sein. Mehr als seinen Vornamen braucht man bei AA nicht von sich preiszugeben, es gibt keine Mitgliedslisten oder Gebühren. Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören.
Das „Blaue Buch“ der Anonymen Alkoholiker ist in 70 Sprachen verfügbar. Es beschreibt das Programm der zwölf Schritte, die zur seelischen Heilung und zu einer positiven Lebenseinstellung führen sollen. Im zweiten Teil des Buches berichten Betroffene aus ihrer eigenen Trinkerzeit und wie sich ihr Leben veränderte, nachdem sie zu AA gefunden hatten.
Alkoholismus ist keine Charakterschwäche; es ist eine von der Weltgesundheitsorganisation anerkannte Krankheit. Ein Alkoholiker verliert die Kontrolle über sein Trinken, er kann aus eigenem Willen nicht nach ein oder zwei Gläsern aufhören. Die Krankheit Alkoholismus ist nicht heilbar, sie kann durch Abstinenz lediglich zum Stillstand gebracht werden. Die AA sagen: Lass das erste Glas stehen, dann kann Dir das zehnte keine Probleme machen. Weil es am Anfang schier undenkbar erscheint, ein Leben lang auf den Alkohol zu verzichten, ist ein weiterer Leitsatz: Nur für heute!
In Main-Spessart gibt es drei AA-Gruppen:
Gemünden: Mittwoch 19 Uhr, Adolph-Kolping-Haus · Kolpingstr. 5
Lohr: Dienstag 20 Uhr, Bruder-Konrad-Haus, Kirchplatz 8. Zeitgleich trifft sich in einem eigenen Raum die AL-ANON Familiengruppe
Marktheidenfeld: Donnerstag 20 Uhr, evangelische Friedenskirche, Würzburger Str. 7
Alle Gruppen treffen sich auch an Feiertagen. Mehr Informationen auch unter