Immer mehr kleine Pferdegespanne beleben die unterfränkischen Felder. Gemütlich sieht das aus, als säß da wer auf einem rollenden Sofa und zöge gelegentlich an einem Zügel. Doch der Schein trügt. Tatsächlich ist das Kutschefahren ein vielschichtiges Phänomen. Und nicht ganz ungefährlich.
Der erste Anschein trügt allerdings nicht. Dass wieder öfter kutschiert wird, bestätigt Martin Vogel, der bayerische Fahrbeauftragte in der Vereinigung deutscher Freizeitreiter. „Viele Reiter schwenken auf das Kutschefahren um, wenn sie älter werden“, sagt er. Das erscheint dem Speditionsangestellten als ein süddeutsches Phänomen. Aus dem rosse-tummelnden Münsterland, wo Martin Vogel mit Pferden aufwuchs, kennt er diesen neuen Trend zum vollgummibereiften Pferdesport gar nicht.
Wer rollt also durch die heimatlichen Gefilde? In der Regel sind das Reiter, deren Tier auf einem Pferdehof zur Miete wohnt, und die das Kutschefahren als schöne Alternative zur Fortbewegung im Sattel schätzen. Denn in einem Punkt sind beide Nutzungsarten des Pferds – auf seinem Rücken oder hinter dem Schweif – beinahe gleich: Zwischen Ross und Reiter läuft eine fortwährende Kommunikation.
Die beiden Hauptkräfte einer Pferdeseele bestimmen die Fortbewegung – ob mit, ob ohne Räder – gleichermaßen: „Pferde haben ein ziemlich kleines Hirn“, sagt die Psychologin Petra Küspert und tätschelt die Stirn ihres Schwarzwälder Fuchses Gretel liebevoll: „Die kennen eigentlich nur zwei Verhaltensweisen: als Flucht- und als Herdentier.“ Die zwei Triebe müssen ständig kontrolliert, gelenkt, ausgebremst werden. Die beste Voraussetzung dafür ist Vertrauen zwischen Mensch und Tier.

Gelegenheit zur Vertrauenspflege gibt schon das Anschirren. Oder nein, alles beginnt noch viel früher. Gretel wohnt auf dem Reiterhof in Zellingen (Lkr. Main-Spessart), auf dem sie schon aufwuchs. Petra Küspert hat also ein Tier mit einem wirklich sehr gewohnten heimischen Stall gekauft, das obendrein die Umgebung bestens kennt. Ohne anderslautende Befehle würde Gretel von überall sofort heimtraben. Darauf kann sich die Halterin verlassen – keine schlechte Voraussetzung für die Kommunikation.
Vor der Ausfahrt wird gestriegelt. Dann folgt das Geschirr. An fast einem Dutzend Punkten rund um den stattlichen Pferdekörper muss alles in Ordnung sein: Sitzen die Schnallen fest, drückt nichts? Als Letztes schiebt Petra Küspert ihrer Gretel die Trense ins Maul. „Ah, die Lenkstange“, sagt der Laie. Der erfährt dann aber, dass es so ziemlich die letzte Bankrotterklärung sei, wenn man dem Pferd die Anweisungen für links und rechts so gewalttätig wie mit dem Zug an der eisernen Beißstange geben müsse. So etwas macht der Mensch mit dem Gaul verbal aus. Gretel schnaubt. Angeblich drückt sie damit Zufriedenheit aus.
Vom ruhigen Rollen über den Asphalt geht es ab auf den Feldweg. Der Übergang rumpelt stärker als erwartet, trotz Einzelradaufhängung und dicker Federung. Kutschen sind heutzutage sehr solide gebaut, oft in kleinen Manufakturen mit hohem Handwerksaufwand. Saubere Arbeit ist lebensnotwendig. Weil: Wenn irgendetwas bricht, schlimmstenfalls ein Rad, dann bleibt die Kutsche nicht einfach stehen, und das Pferd hält mit an.

Ganz im Gegenteil! Im Augenblick der Panne verschafft sich der Fluchttrieb vorn an der Deichsel massiv Geltung, das Zugtier geht durch, reißt die halb umgekippte Kutsche mit sich und – ein bisschen Pech kann man haben – über den halb rausgefallenen Fahrer drüber. Eine halbe Tonne harter Materialien kann gefährlich verletzen.
Moderne Kutschen halten viel aus, auch einen Galopp über Holperpisten. In dieser Gangart sieht das Gespann für einen Betrachter aus zehn Metern Abstand hochromantisch aus. Wer zum ersten Mal hinter dem breiten Pferdehintern sitzt und auf- und abgeschüttelt wird, der sollte dem Kutschfahrer schon gut vertrauen, sonst fällt die nächste Wegstrecke beängstigend aus.
Gretel, wieder im gemäßigten Trab, dreht ihre Ohren, Frau Küspert spricht beruhigende Wörter und erklärt ihrem Passagier: „Jetzt achtet sie mehr auf die Umgebung als auf mich – das müssen wir ändern.“ Hinter dem nächsten Busch sitzt immer ein Reiher und fliegt auf, wenn etwas vorbeikommt. Gretel findet das richtig blöd.
Aber – wieder eine Gefahr überstanden. An der nächsten Kreuzung erkennt man abermals Gretels Drang, Richtung Heimathof abzubiegen. Muss man meistern, mit Geduld und Einfühlungsvermögen. Die Neigung zum eigenen Hof ist dabei nicht die Hauptauswirkung der Herdentier-Instinkte. Was in dieser Hirnhälfte passiert, fasst die Psychologin zu dem einen Prinzip zusammen: „Für ein Herdentier geht es ständig um die Frage: Wer bewegt hier wen?“
„Für ein Herdentier geht es ständig um die Frage: Wer bewegt hier wen?“ Petra Küspert, Psychologin
Kutschefahren ist ein sommerliches Hobby. Man kann es zwar bei jedem Wetter betreiben, den größten Vorteil hat das Fahren aber bei Hitze. Zum Reiten muss man nämlich selbst an Hundstagen die lange, dick verstärkte Reiterhose tragen, will man nicht mit wunden Innenschenkeln heimkehren. Kutschieren dagegen kann die Dame auch im luftigsten Sommerkleidchen.
Die meisten Kutschen stehen auf Bauernhöfen, staubig, defekt, vergessen. Zu groß, zu schwer, zu unsicher. Spaziergänger werden ihnen kaum begegnen, zumal ihre Besitzer in der Regel keine Pferde mehr haben. Berline, Kremser und Landauer haben ausgedient.
Wenn es keine aufgearbeiteten historischen Bauernwägen sind, mit denen der moderne Mensch die Feldwege frequentiert – dann also wohl gebraucht gekaufte Sulkys von der Trabrennbahn? Falsch. Weil der sportliche kleine Einspänner nur eine Achse hat, „nickt“ er bei jedem Schritt des Pferds, das nicht sehr waagerecht über Land zieht; diese nickende Deichselbewegung wirkt auf den Pferderücken zurück. So können sich ungute Dinge hochschaukeln.
Der verbreitetste Typ ist die Marathonkutsche, die für extra hohe Wendigkeit gebaut ist. Viele Modelle haben die Anmutung eines Automobils der ersten Generation. Aber die Lochbleche, Scheibenbremsen und dergleichen verraten auf den ersten Blick: Das sind ausgeklügelte Spezialgeräte.
Standard sind vier Räder und zwei Achsen, besser aber gar keine Achse. Einzelradaufhängung sorgt für ruhige Straßen- bzw. Bollerweglage. Kutschen unterliegen der Straßenverkehrs- und der -zulassungsordnung, müssen also etwa Beleuchtung und Erste-Hilfe-Kasten haben. Ein Führerschein ist hingegen nicht nötig, Pferd und Kutscher müssen lediglich „geeignet“ sein. Das lässt sich durch Kurse nachweisen. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung bietet seit dem 1. Juni einen Kutschenführerschein an.
Der andere Verband, die Vereinigung deutscher Freizeitreiter, schreibt hingegen lediglich Fahrkurse aus. Der Hauptunterschied liegt in der Zielgruppe. Der Club, in dem Martin Vogel Fahrbeauftragter ist, wendet sich an Leute, die hobbymäßig Umgang mit Pferden haben. Zweck der Prüfung ist, sichere Fahrer in die Landschaft zu entlassen. Denn die Straßenverkehrsordnung erfordert vom Kutscher die – gesetzlich allerdings nicht näher definierte – Fähigkeit, eine Kutsche zu lenken. Und manche Versicherung verlangt irgendeinen qualifizierenden Ausweis. Bei der Vereinigung absolviert man dazu 40 Unterrichtseinheiten in zwei Monaten, davon die Hälfte auf der Kutsche.

Beim Grundschein lernt man im Verkehr und im Gelände auf Feldwegen Ein- oder Zweispänner zu fahren. Manche Kutscher ziehen zwei Zugtiere dem alleinigen vor: Wenn sie durchgehen, so ihre Kalkulation, dann nicht koordiniert in dieselbe Richtung; vielmehr bremsten zwei verschiedene Fluchttiere sich gegenseitig aus.
Die meisten Kurse werden von externen Lehrern gegeben, die auf Reiterhöfen gastieren. Vierspänniges Fahren trainiert man auf Vertiefungskursen. Da geht es auch um solche Fortgeschrittenenthemen wie „Wanderfahrten über 14 Tage“. Martin Vogel erklärt: „Dabei macht man sich Gedanken, wie man eine lange Strecke fürs Kutschefahren plant.“
Vogel ist kein Nostalgiker. Wenn er sich etwas zurückwünscht aus der Zeit vor 50 Jahren, dann „dass die Leute minimal Ahnung von Pferden“ hätten. Damit Autofahrer nicht zu dicht und zu schnell an einer Kutsche vorbeibrettern und dabei auch noch fröhlich winken und hupen. Das hat kein Fluchttier gern.