Der Junge ist acht Jahre alt, als seine Eltern 2010 bei einem Verkehrsunfall sterben und er in die Obhut einer Pflegemutter kommt. Immer wieder wird er in den folgenden zwei Jahren von der Pflegemutter hart bestraft. Mit der flachen Hand schlägt sie ihrem Schutzbefohlenen 50 mal hintereinander ins Gesicht und zählt dabei laut mit. Nur weil sie vom Klingeln des Telefons unterbrochen wird, bleiben dem Jungen mehr Ohrfeigen erspart, wird das Amtsgericht Gemünden (Lkr. Main-Spessart) später feststellen.
Ein anderes Mal drückt die heute 55-Jährige den Kopf des Jungen in ein Waschbecken. Den ausziehbaren Wasserhahn steckt sie ihm in den Mund und dreht voll auf. Das Amtsgericht Gemünden sieht die Tortur, die der heute 20-Jährige als "Waterboarding" bezeichnet - eine Foltermethode, die das Gefühl des Ertrinkens auslösen soll -, als erwiesen an.
Über Jahre hinweg muss die Pflegemutter ein "ausgeklügeltes Bestrafungssystem" entwickelt haben, das bei dem Kind schwere Schmerzen und Todesangst auslöst. So verliest es jetzt am Landgericht Würzburg im Revisionsprozess die Vorsitzende Richterin Susanne Krischker aus der Anklageschrift. Die Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung, zu der das Landgericht Würzburg - im Berufungsprozess im Jahr 2019 - die Pflegemutter wegen Misshandlung eines Schutzbefohlenen verurteilt hatte, ist rechtskräftig. Doch nun muss geklärt werden, ob sie auf Bewährung verurteilt bleibt. Oder ob sie doch - wie von der Staatsanwaltschaft gefordert - eine Haftstrafe antreten muss.
Beschuldigte sieht sich zu Unrecht verurteilt
Die gelernte Erzieherin arbeitet nach eigenen Angaben heute als Kassiererin, lebt in einer festen Partnerschaft und sagt, dass sie ein geordnetes Leben führe. Und: "In meinem ganzen Leben hat mir noch niemand gesagt, dass ich irgendetwas Unangemessenes gemacht hätte."
Vor dem Landgericht beteuert die 55-Jährige, dass die Tatbestände nicht oder nur teilweise so stattgefunden hätten, wie in der Anklageschrift verlesen. Sie sieht sich zu Unrecht verurteilt. "Aus kleinen Lügen wurden immer größere", sagt sie über den früheren Pflegesohn. Doch das Urteil ist rechtskräftig, die Schuldfrage ist nicht Gegenstand des aktuellen Revisionsverfahrens, erinnert Richterin Krischker.
Verteidigung versucht Widersprüche in Aussagen aufzudecken
Im Zeugenstand berichtet dann der frühere Pflegesohn von den Folgen und Nachwirkungen der "Erziehung". Penibel wird der 20-Jährige vom Verteidiger befragt. Der Anwalt der Beschuldigten reibt sich an der Wortwahl in den Aussagen des Geschädigten und versucht, Widersprüche herauszuarbeiten. Fast kommt es zum Streit zwischen ihm und dem Staatsanwalt.
Eine von der Angeklagten engagierte psychologische Sachverständige schaltet sich in die Verhandlung ein. Sie soll die Schuldfähigkeit der früheren Pflegemutter beurteilen, stellt jedoch ebenfalls den Wahrheitsgehalt der Aussagen infrage. "Ich habe das Gefühl, sie wollen hier ein Glaubwürdigkeitsgutachten erstellen", sagt die Vorsitzende Richterin.
Wenn die 55-Jährige wolle, dass ihre Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, so brauche das Gericht Anhaltspunkte wie Reue oder Wiedergutmachung. Nach mehrmaligem Hinweis von Richterin Krischker ringt sich die Beschuldigte zu einer Entschuldigung durch: "Also, dann entschuldige ich mich jetzt für das aus deiner Sicht Vorgefallene. Und dafür, dass ich da zu ehrgeizig war", sagt sie in Richtung des 20-Jährigen. Für die Vorsitzende Richterin zeigt sie sich damit nicht ausreichend schuldeinsichtig.
Vorsitzende Richterin empört: "abstruses Pseudogutachten"
Zudem stößt sie sich an dem Untersuchungsergebnis der privaten Gutachterin der Angeklagten. Diese hatte der 55-Jährigen große Disziplin und Herzlichkeit attestiert. Sie sei "sehr strikt", "sehr belastbar" und ordnungsbewusst und zeige keine Tendenzen zur Aggression. Die Aussagen des früheren Pflegesohnes dagegen seien widersprüchlich. Er habe die Tendenz zu lügen. Den Fall am Waschbecken habe sie mit der Hilfe eines Tauchers nachgestellt, so die Gutachterin. Das Ergebnis: "Das konnte so nicht sein."
Der vom Gericht bestellte Gutachter hingegen geht von voller Strafverantwortlichkeit aus. So kommt die Vorsitzende Richterin schließlich zu dem Urteil: keine Bewährung. Die Angeklagte muss ihre Haftstrafe in einer Justizvollzugsanstalt absitzen. Krischker begründet dies damit, dass die Angeklagte weder Schuldeinsicht, noch Reue zeige. Bei dem privaten Gutachten handele es sich um "ein abstruses Pseudogutachten", das sie in einer solchen Form in Jahrzehnten ihrer Arbeit nie gesehen habe, sagt Krischker.
Gegen das Urteil kann binnen einer Woche Revision eingelegt werden.