Der Mehrzweckraum wurde Wartezimmer, die Kaffeeküche Labor, das jetzige Behandlungszimmer stand vor seiner Umwandlung leer: Im November 2008 nahm in Retzstadt die erste mobile Arztfiliale in den Räumen des Rathauses ihren Betrieb auf. Nach gut zwei Jahren ist die anfängliche Skepsis seitens der Ärzte verflogen. Vor allem die Patienten finden: Die Sache ist gut.
„Wir haben seit 1998 keinen Hausarzt mehr in Retzstadt“, sagt Bürgermeister Karl Gerhard. Auf die Idee, einen Arzt per Filiale in den 1620 Einwohner-Ort zu holen, kam er 2008, im Jahr seines Amtsantritts. „Ein Jahr zuvor trat das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz in Kraft“, erklärt er. In diesem wird Ärzten das Führen einer Zweigpraxis beziehungsweise das Auslagern von Praxisräumen erleichtert. Eine Sache, von der er sozusagen von Berufswegen – Gerhard ist Leiter Finanzen am Klinikum Main-Spessart – erfuhr.
Bereits im Juni führte er erste Gespräche mit der Gemeinschaftspraxis Schär, Dr. Schmotz, Machann aus Retzbach. „Das kannste vergessen“, war die erste Reaktion von Herbert Schär. „Ich hatte eigentlich immer schlechte Erfahrungen mit so etwas gemacht: Du hast keine Unterlagen der Patienten da, nicht alle Formulare und in der Arzttasche fehlt immer etwas“, erzählt der Arzt.
Vom EKG-Gerät bis zur Theke
Trotzdem ließen sich die Ärzte auf die Überlegungen ein und machten sich Gedanken, was für eine Filiale benötigt würde. Mindestens drei Zimmer, Toiletten, einen Computer mit Standleitung, Arzthelferinnen, ein EKG-Gerät, diverse Untersuchungsgeräte, eine Empfangstheke, Stühle, Schränke . . . „Die Anschaffungen waren Sache der Ärzte, dafür sind wir mit der Miete entgegengekommen“, erläutert Karl Gerhard, wie man sich finanziell einigte. „Außerdem musste die Filiale bei der Kassenärztlichen Vereinigung in München gemeldet werden.“
Das war 2008. Im Jahr 2011 sind nicht nur alle Geräte auf der Liste angeschafft, sondern noch einige mehr. „Außer einem Lungenfunktionstest und Ultraschall-Untersuchungen können wir alles hier machen“, sagt Arzthelferin Helga Schmitt. Da sie eh aus Retzstadt kommt, übernimmt sie oft die Termine in der Retzstadter Filiale. Sowohl dienstags als auch donnerstags gehen Retzstadts Bürger nun zur Behandlung ins Rathaus um die Ecke.
Gerade ältere Leute und Berufstätige profitieren von der nahen Versorgung. „Das ist eine große Bereicherung für den Ort“, sagt der ältere Herr im Wartezimmer. Er ist zu Fuß gekommen, um seine Tetanus-Impfung aufzufrischen. Auch gut: die späten Öffnungszeiten donnerstags von 17 bis 19 Uhr. So können Berufstätige ihren kranken Angehörigen nach der Arbeit zum Arzt begleiten.
„Für uns rentiert es sich, weil es durch die Filiale weniger Hausbesuche gibt“, sagt Herbert Schär. Ungefähr drei Hausbesuche pro Stunde seien maximal zu schaffen, schätzt Schär. Nun kommen die Patienten, zu denen er früher rausfahren musste, her. Das spart ihm Zeit und der Krankenkasse Geld. Funktionieren kann das allerdings nur, wenn der Arzt in seiner Haupt-Praxis abkömmlich ist, beziehungsweise entsprechend vertreten wird.
„Die Zeiten des Einzelkämpfers, der sowohl den Praxisbetrieb als auch Hausbesuche macht, sind vorbei“, sagt Bürgermeister Karl Gerhard. Allerdings sei eine Gemeinschaftspraxis mit mehreren Partnern Grundvoraussetzung für eine Zweigstelle. Auch bei Schär, Schmotz, Machann teilt man sich die Arbeit in Retzstadt auf. Mittlerweile hat eine zweite Arztpraxis ihr Angebot um eine Sprechzeit dort erweitert. Jeden Mittwoch von 14 bis 15 Uhr findet die Sprechstunde von Dr. Rainer und Dr. Johannes Kromczynski im Dachgeschoss des Rathauses statt.
Mal rasch auf den Friedhof
„Die Leute in Retzstadt sind so zufrieden mit der Situation, dass sie sogar längere Wartezeiten in Kauf nehmen“, erzählt Arzthelferin Schmitt. „Oder sie nutzen die Gelegenheit und gehen in der Zeit mal rasch auf den Friedhof.“ Bürgermeister Gerhard freut sich noch aus einem weiteren Grund über die Filiale: Sie bringt Menschen in seinen Ort. „Wenn ich abends ins Rathaus komme, stehen nicht selten auch Patienten aus Retzbach in der Schlange.“