Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Main-Spessart
Icon Pfeil nach unten
Lohr
Icon Pfeil nach unten

LOHR: Wie Lohrer das Unglück erlebten

LOHR

Wie Lohrer das Unglück erlebten

    • |
    • |
    Die Gasexplosion kostet einer Frau das Leben. Vier Menschen werden schwer, 56 weitere leicht verletzt, meist durch Glassplitter.
    Die Gasexplosion kostet einer Frau das Leben. Vier Menschen werden schwer, 56 weitere leicht verletzt, meist durch Glassplitter. Foto: Foto: Karl Anderlohr

    Es war ein Rummsen, als wenn sich etwas aufbläht und dann ... Wfffff.“ Josef Harth, damals Personalreferent der Stadt, saß keine 15 Meter entfernt vom Explosionsherd im Rathaus. „Das war, als hätte eine Bombe eingeschlagen“, erinnert sich Michael Schecher, damals Lehrling bei der Sparkasse mit Zimmer zur Kellereigasse hin. „Das ganze Haus hat richtig gewackelt, vibriert.“ Redakteur Karl Anderlohr verließ gerade die Lohrer Zeitung in der Färbergasse, 100 Meter vom Rathaus entfernt. „Es war wie ein Schlag vor die Brust ... die Druckwelle ... und Sekundenbruchteile hinterher der Knall.“

    Bis nach Wombach und Steinbach war die Explosion zu hören, die am 26. Juni 1978 die Stadt beben ließ, drei Häuser demolierte. Auch 40 Jahre später ist der Tag unvergessen. „Ich schrecke heute noch aus dem Schlaf hoch, wenn irgendwas knallt“, erzählt Siegfried Zeitz, einer der vier schwer Verletzten dieses Unglücks. Er war gerade in sein Büro an der Ecke des Sparkassengebäudes gegangen, als es passierte.

    „Es hat geknallt, dann weiß ich nichts mehr“, erzählt der heute 87-Jährige. „Dann haben sie mich aus den Scherben rausgeholt. Ich weiß nur noch, dass einer der beiden Kollegen, die mich zum Krankenhaus geschleift haben, zum anderen gesagt hat: ,Jetzt mach amal schnell, der stirbt uns sonst unter der Hand weg.'“ Seinen 48. Geburtstag feierte er eine Woche später im Krankenhaus. „Ich muss ausgesehen haben wie eine ägyptische Mumie“, lacht er heute: Er hatte zahlreiche Schnittverletzungen, hauptsächlich im Gesicht, eine Hirnprellung, die Zähne waren kaputt, der Kiefer gebrochen. Wochenlang ernährte er sich nur über ein Röhrchen, „so haben sie mich halt über die Runden gebracht“. Monate dauerte es, bis er wieder einigermaßen hergestellt war.

    Schwarze Schreckfalte auf der Stirn

    Jeder hat das Ereignis irgendwie anders mitbekommen. Rosemarie Mehling etwa, die vor dem mittleren Rathausfenster am Unteren Marktplatz stand, hatte den Knall gar nicht wahrgenommen. „Ich merkte ein unbekanntes Geräusch, das von diesem Dach kommt“, erinnert sich die Witwe von Weinwirt Josef Mehling und deutet auf das benachbarte Gasthaus Schönbrunnen. „Es öffnet sich wie ein Trichter und die ganzen Ziegel fliegen in die Gassen.“ Nur das Geräusch vom Dach hat sie mitbekommen; dass zeitgleich überall die Scheiben zu Bruch gingen, hat sie gar nicht registriert. Im Herrgottswinkel der Weinstube saßen ihre Eltern, schwarz gekleidet wegen einer Beerdigung. „Von schwarz war nichts mehr zu sehen – alles war grau.“ Der damals zehnjährige Sohn Matthias, der nach dem Knall mit dem Kettcar vom Schafhof in die Innenstadt getreten kam, bemerkte einen schwarzen, senkrechten Strich auf ihrer Stirn. „Das war eine Schreckfalte“, wundert sich Rosemarie Mehling noch heute. Nach einem Tag sei der aber wieder spurlos verschwunden gewesen.

    Harth saß bei der Ausschusssitzung als Personalreferent an einem eigenen Tisch mit dem Rücken zum Modehaus Schneebacher, das zerstört wurde. Die Sitzung war grad eröffnet worden, als es rummste. „Man wusst' in dem Moment natürlich nicht genau, was passiert ist. Man hat erst einmal gar nix gesehen.“ Das erste, was er bemerkte: Die Rundbögen waren fensterlos. „Das Haus kracht ein. Nix wie raus!“, fuhr es ihm durch den Kopf und er sprang durch das Fenster, vor dem kurz vorher noch Rosemarie Mehling gestanden hatte.

    Winken aus dem Bürofenster

    Von einem Geschäft in der Hauptstraße aus rief Harth seine Frau an: Es sei ihm nichts passiert. Verstehen konnte sie das nicht wirklich: Sie hatte nichts mitbekommen in Sendelbach. Aus welchem Grund auch immer wollte Harth zu seinem Büro im ersten Stock des Polizeigebäudes, sah zwei Leute, die einen Mann zwischen den Armen geführt haben, den er kannte, aber nicht erkannte: Es war Siegfried Zeitz, voller Staub und Dreck und Blut. Aus dem fensterlosen Büro des Einwohneramts im ersten Stock, heute der Empfang der Bibliothek, winkten zwei Frauen: Ihnen war nix passiert. Harth hatte Glück: „Ich hab gar nix abgekriegt. Ich hab keinen Kratzer gehabt. Ich war staubig – das war's.“ Das meiste des Explosionsdrucks, so meint er, dürfte der Treppenturm abgehalten haben.

    Vor Angst unter den Schreibtisch

    Sparkassen-Lehrling Michael Schecher und eine Kollegin krochen nach dem Knall aus Angst unter den Schreibtisch. „Wir hatten Glück im Unglück – wir waren auf der besseren Seite“, blickt er zurück. Beim Gang durchs Haus erst merkten sie dann: „Da fehlt ja ein ganzes Haus auf der anderen Straßenseite.“ Vergeblich suchte er nach dem Sanitätskasten: Den hatte sich schon sein Kollege Adolf Reichert geschnappt, um einen Stock tiefer im Aufenthaltsraum eine blutende Kollegin zu versorgen. Reichert selbst blieb durch einen unglaublichen Zufall unbeschadet: Er bückte sich gerade nach seiner Reiseschreibmaschine, die sonst immer auf dem Schreibtisch stand, an diesem Tag aber auf dem Boden. Just in diesem Augenblick knallte es. Kaum richtete er sich auf, war alles voll von ganz kleinen Glassplittern. „Was sich draußen abgespielt hat, davon hatte ich keine Ahnung in diesem Moment.“

    Blutspur zum Krankenhaus

    18 Kollegen wurden an diesem Tag verletzt. Die meisten gingen selbstständig zum Krankenhaus. Den Weg dorthin konnte man an einer Blutspur erkennen, erzählt Michael Schecher. Der wie durch ein Wunder unverletzte Reichert bewachte die Sparkasse: Die meisten Kollegen waren im Krankenhaus.

    Jeans auf der Treppe zum Tresor

    Glück hatten auch jene von der Kasse: Sie brachten ihre Kassen gerade in den Tresorraum im Keller, vermuteten nur, eine Tür sei zugekracht. Als sie nach oben gingen, wunderten sie sich erst einmal über Jeans auf der Treppe: Sie waren – wie sogar Gewände – aus den beiden Nachbarhäusern über die Rathäuser in den Schalterraum geschleudert worden. „Wenn da jemand drin gewesen und davon getroffen worden wäre, der hätte das nicht überlebt“, mutmaßt Michael Kress, später stellvertretender Vorsitzender der Sparkasse. Die Scheiben in seinem Zimmer zum Innenhof hin waren ganz geblieben, gehalten von einer aufgeklebten Sonnenschutzfolie. Vorstand Gustl Scherer sei, schnell verarztet, wenig später mit Kopfverband durch die Sparkasse gelaufen. Nach zwei Tagen war schon wieder Kundenbetrieb – mit Folien statt Glas in den Fensterrahmen.

    Großartiges Zusammenwirken der medizinischen Abteilung

    „Als kämen die Fenster einem entgegen“, erlebte Gerd-Uwe Johnson den „riesigen Krach“ in der Ambulanz des Krankenhauses. Er war an diesem Tag leitender Notarzt. Doch zunächst wusste die Rettungsleitestelle von nichts und waren lokal keine Informationen zu erhalten. Das änderte sich rasch, als erst die Kunde von der Explosion und dann gleich die Verletzten eintrafen. Seine Hauptaufgabe war es, Triagen zu machen, die Schwere der Verletzungen einzuschätzen. Leicht Verletzte schickte er in andere Krankenhäuser, andere zu seinen Kollegen. Niedergelassene Ärzte waren telefonisch nicht erreichbar, kamen aber spontan. „Es waren wirklich alle im Krankenhaus, leisteten Erste Hilfe mit Verbänden, Nähten und Röntgenaufnahmen“, berichtet Johnson. „Es war ein großartiges Zusammenwirken der medizinischen Abteilung Lohrs.“

    Mutter warf sich auf ihr Kind

    „Die Scheiben sind rausgebrochen und oben im Dach flogen Ziegel raus“, schildert Rosie Bartels ihr Erlebnis in der Marienapotheke. Als ihr die Haustür von der Gasse entgegenkam, reagierte sie instinktiv: „Ich hab mich auf mein Kind geschmissen …“

    Siegfried Selinger, damals seit zwei Monaten Stadtrat, später Bürgermeister, kam leicht verspätet zur Ausschusssitzung. Eine Bekannte hatte ihn aufgehalten. In den Sitzungssaal ging's durch den Rathausturm. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugemacht, hat's geknallt. „Das hab ich gar nicht wahrgenommen“, erzählt der heute 75-Jährige. „Ich muss einen Augenblick bewusstlos gewesen sein, denn es hatte die Tür aus den Angeln gerissen. Sie muss mir in den Rücken geflogen sein und ich bin mit ihr unter die Wendeltreppe gefallen.“ Sein erster Gedanke, als er wieder bei Sinnen war: „Was passiert jetzt? Jetzt kommen die Treppenstufen runter. Ich hab aber keine Angst gehabt. Ich war mir sicher: Das passiert jetzt und ich werd' zerquetscht. Aber dann fielen nur ein paar Steinchen runter und mir ist weiter nichts passiert.“ Furchtbar dunkel, fast schwarz, sei es im Treppenturm gewesen, dann braun und schließlich immer heller geworden.

    Wimmern aus dem Schuttberg

    Draußen registrierte er weinende Frauen in den Fenstern der Sparkasse, hörte er Wimmern, stieg auf den Schuttberg, suchte, sah aber nichts. Erst als Anton Back, Metzger und Feuerwehrmann, „mit Riesenschritten“ auf den Marktplatz kam und sie zusammen nochmals suchten, entdeckten sie Margarete Schecher, die Bewohnerin über dem Ratsgrill. Total mit Staub bedeckt, war sie erst auszumachen, nachdem sie sich wohl etwas bewegt hatte und dadurch die Staubschicht von ihr abgefallen war. Selinger und Back trugen sie auf den Marktplatz, andere brachten sie ins Krankenhaus. Einer von ihnen war Redakteur Anderlohr. Die zweite wimmernde Frau, Polizeisekretärin Blandine Schleicher, suchten sie vergebens. „Irgendwie war das ganze fast irreal,“ blickt Selinger zurück. „Man ist nicht darauf vorbereitet, da stürmt so viel auf einen ein.“

    Die Eltern von Klaus Weis, damals Juniorchef des Modehauses Schneebacher, hatten ebenfalls Glück: Der Vater, der in der Wohnung im 1. Stock Zeitung gelesen hatte, war zwar gespickt mit Glassplittern. Die Mutter aber, die mit zwei, drei Kunden im Laden war, blieb unverletzt. Die Kabinen waren nicht belegt, erzählt Weis. Die Kunden seien mit den neuen Klamotten, die sie grad probierten, aus dem Schutt rausgekrochen. Ihre alten hätten sie erst später wieder bekommen. Eine Verkäuferin sei leicht verletzt worden, der Eingang zum Keller zwar verschüttet gewesen, sie aber sei über die Spindeltreppe in den Laden gelangt.

    Er selbst fuhr an seinem ersten Urlaubstag zum Gardasee, wunderte sich, dass die Telefonleitung zu seinen Eltern tot war und die Schwiegereltern in Partenstein herumdrucksten. „Ruf morgen früh wieder an.“ Tags darauf dann: „Ihr hättet eh nicht helfen können. Keiner verletzt. Nachbarin tot. Alles kaputt.“ An diesem Tag, so witzelt er, „hätten wir wahrscheinlich den größten Umsatz unserer Geschichte machen können. Denn am nächsten waren alle grad auf dem Weg zum Schneebacher gewesen, um einzukaufen.“

    Notverkauf in der Alten Turnhalle

    Das taten sie dann aber in der einen Woche Notverkauf, in der das Modehaus angeschmutzte Ware in der Alten Turnhalle verkaufen durfte. „An den beiden ersten Tagen war das ein Spektakel,“, so Weis. „Es war das erste Mal, dass wir unter Polizeischutz Hosen verkauft haben.“ Der Andrang sei so groß gewesen, dass die Gärtnerstraße zeitweise gesperrt wurde. „Wenn zehn rauskamen, durften wieder zehn rein.“

    Um das Personal zu halten, wollte die Familie weitermachen. Doch wo? Die Stadt bot das alte Gefängnis in der Kellereigasse an. „Noch heute werde ich von älteren Kunden angesprochen auf unseren Werbesprüche damals“, so Weis: „Besuchen Sie uns im Gefängnis!“

    Stein für Stein, Dachlatte für Dachlatte

    Ernst Herr war einer der 60 Hilfskräfte vom THW: Als er den Knall höre, packten er und sein Vater, die in der Heeg in der Nähe des Galgens gemäht hatten, zusammen, als schon ein Kamerad mit der Kunde aus der Stadt heranbrauste. „Ernie, Ihr müsst sofort heim. In der Rathausgasse ist ein Haus explodiert.“ Am Schlossplatz wurden sie nur durchgelassen, weil sie Anlieger waren, am anderen Ende der Rathausgasse im Ottenhof wohnten. „Bei uns in der Werkstatt drei Fenster kaputt, in der Rathausgasse ein riesiger Trümmerhaufen – huch.“ Herr radelte in die THW-Unterkunft in die Jahnstraße, zog sich um und packte mit an. Weil man weitere Verschüttete vermutete, wurde alles mit der Hand geräumt. „Wir haben dann Ketten gebildet, Stein für Stein, Holzbrocken für Holzbrocken, Dachlatte für Dachlatte durchgereicht. Da hast Du richtig sehen können, wie der Haufen kleiner wird.“

    Herr war in der Mannschaft Rathausgasse. „Auf der anderen Seite haben sich welche durchgearbeitet zum Keller vom Schneebacher.“ Was dort los war, ahnte er noch gar nicht. Bis Polizisten auftauchten und gemunkelt wurde: Plünderungsgefahr. Um Mitternacht waren sie fertig. „Was schon sehr beeindruckend war“, so der heutige Stadtrat: „Auf dem Trümmerhaufen Feuerwehr, THW – Seite an Seite, Schulter an Schulter wurde hier und da abgeräumt. Egal, wer es war: Du warst ein Teil dieser Truppe. Jeder hat mitgeholfen.“

    Plünderungsversuche

    Dass es auch Plünderungsversuche gab, dass viele jahrelange Auseinandersetzungen mit den Versicherungen hatten und letztlich lediglich den Zeitwert ihrer Häuser und Einrichtungen ersetzt bekamen, das steht auf einem anderen Blatt Papier. Einig waren und sind sich viele Lohrer bis heute: An diesem Tag haben alle in der Stadt zusammengehalten. Und einige hatten verdammt viel Glück.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden