Wüstungen haben etwas Geheimnisvolles. Es werden damit aufgegebene, mittelalterliche Siedlungen bezeichnet, an die nur noch Urkunden, Flurnamen, Ruinen, Relikte im Boden oder mündliche Überlieferungen erinnern. Im Laufe der Jahrhunderte wurden Siedlungen gegründet, manche verschwanden wieder oder verloren an Bedeutung, weil andere Orte eine Sogwirkung entwickelten oder weil schwere Krankheiten wie die Pest die Bevölkerung dezimierten.
Ein Beispiel für eine Wüstung in unserer Region ist Seehausen, das einst zwischen Duttenbrunn, Zellingen und Billingshausen lag. Dort laufen spannende Forschungen. Der Historische Verein Karlstadt hat es sich mit seiner Arbeitsgemeinschaft, dem Archäologischen Arbeitskreis, zur Aufgabe gemacht, das Rätsel um das verlassene Dorf zu lösen. Wie groß war es? Woher kommt der Name Seehausen? Warum wurde das Dorf vermutlich im 9. Jahrhundert wieder aufgegeben? Das sind viele Fragen, auf die es noch keine sicheren Antworten gibt.
In Detektivarbeit müssen Funde richtig gedeutet werden, denn oberhalb der Erde ist nichts zu sehen von dem ehemaligen Dorf. Dr. Ralf Obst vom Landesamt für Denkmalpflege berichtet von Schriften vom Hochstift Würzburg aus dem 15. Jahrhundert. In denen wurde erstmals der Flurname Seehausen erwähnt, der auf eine Siedlung hinweist, die damals schon eine Wüstung war. Möglicherweise hat sich früher dort auch ein See befunden. Dies würde den Name erklären.

Einen Anhaltspunkt auf das Alter des verlassenen Dorfes Seehausen gibt die Ortsnamenforschung, denn Orte mit -hausen als Endung sind in einer Siedlungswelle im 8. und 9. Jahrhundert entstanden. Die Flurnamen haben sich aber gehalten. Die Gegend dort heißt Seehauser Graben und Seehauser Grund, sagt Obst. Doch ist der heutige Flurname auch der Standort des damaligen Dorfes? Das sei nicht sicher, „denn Flurnamen können wandern“, so Obst.
Ab 1990 sind die Mitglieder des Archäologischen Arbeitskreises Karlstadt immer wieder aufgebrochen, um nach Funden zu suchen. „Sie haben das aufgelesen, was der Bauer rauspflügt“, erklärte Obst. Was zum Vorschein kam, waren Keramikscherben von Töpfen und Kannen. Zudem konnten aber auch menschliche Skelettreste aufgefunden werden, was auf einen Friedhof schließen lässt.
Funde wissenschaftlich wertvoll
Es sei nicht viel gewesen, sagt Obst. „Alles passt in eine kleine Kiste“. Es seien aber dennoch klare Belege für das Bodendenkmal „Wüstung Seehausen“ gewesen. Die Funde waren wissenschaftlich wertvoll, denn sie haben Hinweise auf das Alter der Wüstung geben können. Die Scherben zeigten beispielsweise typische Formen und Verzierungen, die der Zeitspanne 700 bis frühes 9. Jahrhundert zuzuordnen sind. Daher glaubt Obst, das Alter der Siedlung auf diese Jahre einschränken zu können.

Doch wo lag das Dorf? Dazu gab ein Luftbild aus dem Jahr 1991 einen interessanten Hinweis. Es zeigt ein Feld, auf dem ein heller Bewuchsunterschied von zwölf mal fünf Meter Größe im ausreifenden Getreide festzustellen ist. Für den Archäologen ist dies ein Zeichen, dass dort der Untergrund für den Ackerbau schlechter als in der Umgebung ist – weil im Boden die Fundamente eines ehemaligen Gebäudes liegen. Das Getreide reift dort später aus.
Mauerfundamente wiederum sind Hinweise für ein größeres Bauwerk wie beispielsweise eine Kirche, denn zur damaligen Zeit waren die Häuser aus Holz gebaut. Eine Kirche wiederum ist ein Hinweis für eine Ansiedlung. Der Archäologische Arbeitskreis sah sich auf der richtigen Spur und veranlasste 2018/2019 mit dem Einverständnis der Grundeigentümer und Pächter und mit Unterstützung des Landesamts für Denkmalpflege eine geophysikalische Untersuchung, die den Luftbildbefund und weitere Siedlungszeugnisse bestätigte.
Das ehemalige Dorf Seehausen ist aber bei weitem nicht die einzige, mittelalterliche Siedlung, die es in unserer Heimat gab und die wieder verschwand. Dies beweisen Funde, Grabungen, aber auch historische Quellen. Ralf Obst zählt in seinem Aufsatz "Wüstungen am nordwestlichen Maindreieck" insgesamt 23 totale und sieben partielle Ortswüstungen zwischen Arnstein, Gemünden und Zellingen auf.
Diese Siedlungen gab es nicht alle zur gleichen Zeit. Die Wissenschaftler Peter Rückert und Dieter Rödel kommen zu dem Ergebnis, dass sich im Hochmittelalter die Zahl der um die Jahrtausendwende vorhandenen Siedlungen in unserer Region bis etwa zum Jahr 1300 verdoppelt hatte. Dieses Fazit ziehen sie in ihrem Aufsatz "Die Wüstung Gainfurt und das Karlstadter Regelbuch". Im 14. und 15. Jahrhundert sei es dann zu deutlichen Siedlungsverlusten gekommen.
Die Pest wütete grausam
Was ist der Grund dafür? Auch Ralf Obst schätzt, dass im 14. und 15. Jahrhundert Jahrhundert zirka ein Fünftel aller Orte aufgegeben worden sind. Eine Erklärung dafür ist die Pest, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts grausam wütete. Nach Schätzungen wurde durch diese erste große Pestwelle zirka ein Drittel der Bevölkerung in ganz Europa dahingerafft.
Aber auch Umweltkatastrophen trugen zum Verlust der Orte bei. Obst nennt das Magdalenenhochwasser von 1342. Es soll zu verheerenden Überschwemmungen gekommen sein. Eine Katastrophe, die im Juli das Umland zahlreicher Flüsse Mitteleuropas heimsuchte. Dabei wurden an vielen Flüssen die höchsten jemals registrierten Wasserstände erreicht, so die Wissenschaft. Was das für die Siedlungen am Main bedeutete, kann man sich leicht vorstellen. Die in Holz gebauten Behausungen wurden weggeschwemmt.
Hinzu kam die Kleinstaaterei im 14. und 15. Jahrhundert, die zu territorialen Konflikten führte. Auch darunter litt die Bevölkerung und dies führte zur Aufgabe von Siedlungen. "Es war eine schlimme Zeit", sagt Obst.
Von manchen Siedlungen weiß man aufgrund historischer Schriften, dass es sie gegeben haben muss. Aber man weiß nicht, wo diese waren, denn archäologische Nachweise fehlen. Das trifft beispielsweise auf Ammental (bei Mühlbach), Ingelstal (bei Aschfeld), Unerstal (bei Himmelstadt) und Wirstal (bei Laudenbach) zu. Es wurden bislang keine Funde gemacht, die die Existenz dieser Orte belegen.
Die Technik verbessert sich
Obst vermutet, dass dort, wo Unerstal einmal war, jetzt ein Wald ist. Da habe man kaum Möglichkeiten, etwas zu finden, da nichts umgepflügt wird. Aber die Wissenschaft macht Fortschritte. Schon jetzt werden mit der luftgestützten Laserscanning-Technik Dinge entdeckt, die die Archäologen vor wenigen Jahrzehnten nicht für möglich gehalten haben. Dabei fliegt ein Flugzeug oder ein Hubschrauber die Gegend ab und zeichnet ein genaues Bild der Erdoberfläche auf. Bäume und Sträucher werden so weit es geht am Computer herausgerechnet. So ist man beispielsweise auf viele, bislang unentdeckte Hügelgräber gestoßen. Vielleicht macht die Technik weitere Fortschritte und es ist vom Flugzeug bald mit Radar ein Blick sogar in den Boden möglich.
Auch die Wüstung Gainfurt gehört zu den verlassenen Orten und diese ist auch archäologisch nachgewiesen. Gainfurt lag nördlich von Karlstadt am Main und zählt heute zur Gemarkung von Gambach. Bereits vor Jahren wurde dort spätmittelalterlichen Keramik und auch spärliche Gebäudereste gefunden. Die Anfänge der Siedlung reichen auf das 7. und 8. Jahrhundert zurück und hängen mit dem Zentralort Karlburg zusammen. Gainfurt wurde nach Ansicht von Rückert und Rödel nicht aufgrund einer Überschwemmung des Mains zur Wüstung, die der Sage nach die Einwohner im Jahr 1497 heimgesucht hat. Sie gehen davon aus, dass sich die Einwohner in den Nachbarorten niedergelassen und von hier aus versucht haben, ihre Liegenschaften weiter zu bestellen. Dies sei jedoch nur eingeschränkt gelungen. Heute erinnern nur die Flurnamen an die Geschichte des einstigen Dorfes.

Zu den weiteren bedeutenden Wüstungen im heutigen Gebiet des Landkreises Main-Spessart gehören Grünsfeld bei Urspringen, Hinterdorf bei Eußenheim, Mutterhausen bei Homburg und Mattenstadt bei Zimmern, um nur einige zu nennen. Auch rund um das ehemaligen Königsgut Arnstein gab es Orte, die wieder verschwanden wie Bettendorf, Altendorf (heute Heugrumbach), Siegersdorf und Sondheim. All diese Wüstungen haben ihre eigene Geschichte und sie wurden zu unterschiedlichen Zeiten bewohnt und auch wieder verlassen. Mit ihrer Erforschung ergibt sich ein Bild der Besiedlung dieser Region.
Literatur: Rückert, Peter: „Landesausbau und Wüstungen des hohen und späten Mittelalters im Fränkischen Gäuland“ (Würzburg 1990). Rückert, Peter und Rödel, Dieter: "Die Wüstung Gainfurt und das Karlstadter Regelbuch" und Obst, Ralf: "Wüstungen am nordwestlichen Maindreieck ". Die beiden letztgenannten Aufsätze wurden publiziert in "Interdiziplinäre Beiträge zur Siedlungsarchäologie".
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter www.mainpost.de/geschichte_mspL.