Der tragische Moment prägte das Leben des Fechters und Menschen Matthias Behr: Im Duell um den Florett-Weltmeistertitel in Rom tötete 1982 seine abgebrochene Klinge den damaligen Olympiasieger und Weltmeister Wladimir Smirnow. Behr schleppte den Moment wie eine Schuld mit sich – 35 Jahre lang. Doch jetzt fand die Geschichte ein versöhnliches Ende: In Kiew traf er nach jahrzehntelangem Bemühen Smirnows Witwe Emma – und bekam einen nachträglichen Freispruch: Sie macht Behr nicht verantwortlich für den Tod ihres Mannes.
Zwei Bilder wie Leuchttürme
Zwei Bilder stehen wie Leuchttürme am Anfang und Ende dieser Geschichte. Das eine – von dem Matthias Behr jahrzehntelang nicht zu träumen wagte – ist nagelneu. Wie einen kostbaren Schatz reicht Behr das Foto mit zwei Händen vorsichtig herüber: Es entstand erst vor ein paar Tagen auf dem Friedhof von Kiew – vor einem Grab, auf dem eine pathetische Heldenbüste von der letzten Ruhestätte eines sowjetischen Sporthelden zeugt. Daneben steht Behr neben Smirnows Witwe Emma am Grab ihres Mannes.
Der hochgewachsene Tauberbischofsheimer Behr ist der letzte namhafte Sportler aus der großen Zeit der „Goldschmiede“ von Emil Beck. Ginge es dem heutigen Leiter des Olympiastützpunktes darum, seinen Ruf aufzupolieren, dann hätte er zu einer der wichtigsten Begegnungen in seinem Leben vielleicht ein Filmteam mitgenommen.
Journalist stellt Kontakt her
Aber so allein, wie er 1982 gegen Smirnow kämpfte, so allein steigt er jetzt ins Flugzeug, um sich den Schatten seiner Vergangenheit zu stellen: Die Adresse von Emma Smirnow bekam er erst im vergangenen Jahr von einem findigen Journalisten, als er daran schon fast nicht mehr glaubte. Seitdem intensivierte er den Kontakt kontinuierlich.
Vor kurzem hatte ihn Emma Smirnowa per Internet und Telefon wissen lassen: „Ich bin bereit für deinen Besuch“ – eine Nachricht, die er erhofft, aber nicht erwartet hatte.
Man sieht ihm bei der Rückkehr an: Die vier Tage in Kiew haben Spuren hinterlassen. Behr, der sensible Zweifler, wirkt entspannt und heiter wie lange nicht. Er erzählt zuerst zögernd, dann sprudelt es fast so aus ihm heraus: Wie freundlich man ihn empfangen hat, vor allem aber, dass ihm keinerlei Vorwürfe gemacht wurden – im Gegenteil: „Emma Smirnowa hat mir erzählt, dass sie sich oft gefragt hat, wie schwer ich den Vorfall wohl genommen habe und wie es mir damit ging.“ Behr wirkt erleichtert wie einer, der nach langen Jahren einen Freispruch bekommt – oder so etwas wie Vergebung. Wie er sich jetzt fühle? Er schließt die Augen. „Unbeschreiblich. Ich bin am Ziel“.
Das Bild ging um die Welt
Das ginge nicht ohne das andere Bild, das 1982 um die Welt ging und den Sportler Behr auf traurige Art berühmt machte. Es fehlt bis heute in kaum einer Dokumentation über tragische Unfälle im Leistungssport: Mit blankem Entsetzen im Blick sitzt am 19. Juli 1982 der junge Athlet Behr in Rom am Rande der Planche. Er will das Gesicht in sein Handtuch graben – und kann den fassungslosen Blick doch nicht abwenden von dem Punkt außerhalb des Bildes, an dem Helfer um das Leben seines Gegners Wladimir Smirnow kämpfen.
Behrs Mimik fleht förmlich: „Bitte, lass es nicht wahr sein!“ – vergeblich. Später irrt er durch die Halle und schreit: „Warum ich, mein Gott, warum nur ich?“
Selbst sein Tauberbischofsheimer Fechtkollege Thomas Bach, heute IOC-Präsident, ist entsetzt an jenem Tag. Bach saß auf der Tribüne, als es passierte. „An der Körperhaltung von Matthias sah ich: Es war etwas Furchtbares passiert. Sein Schock hat sich tief eingegraben in jeden, der dabei war“, wird er in der „Welt“ zitiert.
Behr: „Er war mein Freund“
Behr sagt von Smirnow, mit dem er in den Jahren zuvor immer wieder die Klinge gekreuzt hatte: „Er war mein Freund.“ Im WM-Viertelfinale treffen die deutschen Florettfechter auf die sowjetischen, und es kommt zum Duell der Meister. Auf der einen Seite der Planche: Matthias Behr, 27 Jahre alt, Olympiasieger 1976, Weltmeister 1977, Weltcupsieger 1978. Gegenüber Wladimir Smirnow, 28 Jahre alt, Olympiasieger 1980, zweimaliger Weltmeister 1981.
Viele Jahre später ist der Moment für ihn so präsent wie damals. Behr traf Smirnow im oberen Brustbereich, die Klinge brach ab, die Vorwärtsbewegung war nicht mehr zu kontrollieren. „Ich habe gespürt“, sagt Behr, „wie die Waffe durch die Maske ging.“ Der Rest verschwimmt in der Erinnerung.
Unfall führt zu mehr Sicherheit im Fechtsport
Das verfolgt Behr sein ganzes weiteres Leben. Es ist ihm kein Trost, dass Klingen damals häufig brechen, wenn zwei 85-Kilo-Fechter im Gefecht aufeinanderprallen. Bei Behr und anderen brechen allein in der WM-Vorbereitung damals 20 solcher Klingen – ohne schlimme Folgen. Aber an dem Tag nimmt das splitternde Metall seinen Weg durch ein Loch in der schadhaften und porösen Schutzmaske ins Auge Smirnows.
Der Unfall führt zu heftigen Diskussionen um die Sicherheit der Athleten – und schließlich zu merklichen Verbesserungen bei Schutzwesten, Masken und Waffen. Behr tröstet sich in den folgende Jahren mühsam: „Vielleicht wurde ich vom Schicksal dafür auf eine grausame Weise auserwählt.“
Der Sportler schwankt zwischen „Ich fechte niemals wieder“ und „Ich muss weiterfechten, sonst zerbreche ich“. Sein Trainer Emil Beck fährt mit ihm in den Bayerischen Wald, damit er zur Ruhe kommt. Behr bleibt Smirnows Beerdigung fern, fürchtet, „dass man mich als Mörder beschimpft“.
Kampf gegen Schuldgefühle
Obwohl ihm niemand ernsthaft eine Schuld an dem tragischen Unfall gibt, legt sich das Ereignis wie eine Schlinge um seinen Hals, die sich im Lauf seines Lebens immer mehr zuzieht. Sportlich findet er wieder in die Spur: Im Einzel gewinnt er 1984 Silber bei den Olympischen Spielen in Los Angeles und 1987 bei der WM in Lausanne. Auch mit der Mannschaft feiert der Ausnahmekönner zahlreiche Erfolge, holt Silber bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles und 1988 in Seoul, wird 1983 und 1987 Weltmeister. Was kaum einer weiß: Der Weltklassefechter kämpft gegen Schuldgefühle. Die Depressionen, die ihn später in ihre Krallen nehmen, haben ihre Ursache auch in diesem tragischen Ereignis von Rom.
Briefe wurden nicht weitergeleitet
Insgeheim bemüht sich Matthias Behr um Kontakte zur Familie seines toten Kontrahenten. Ihn, selbst Ehemann und Vater, treibt der Gedanke an Smirnows damals schwangere Witwe Emma um. Er hat das Gefühl, ihr den Mann genommen zu haben. Er will Kontakt aufnehmen, Trost spenden und nutzt dazu seine Kontakte in der internationalen Sportwelt. Er erntet hier und da oberflächliche Versprechen von Trainern, Sportlern und Funktionären, ihm zu helfen. Doch denen folgen keine Taten. Behrs Bemühungen laufen ins Leere. Auf seine Briefe kommt keine Antwort.
Inzwischen hat er Hinweise darauf, dass der Kontakt von russischer Seite nicht gewollt war. Seine Briefe an Emma waren nicht weitergeleitet worden, erst zehn Jahre später werden sie ihr ausgehändigt.
Das erfährt Behr bei seinem Besuch. Als er vor Emmas Haus aus dem Auto steigt, fühlt er sich angespannt. Wenn man den dabei entstandenen Bildern trauen darf, geht es ihr zunächst genauso. Doch die Aufregung legt sich schnell. Sie bittet Behr in ihr Haus, stellt ihm ihre Familie vor. Beide entdecken, dass sie nach Smirnows Tod unter Depressionen litten und zeitweise keinen Sinn mehr im Leben sahen.
Sie reden stundenlang. „Sie hat mir erzählt, wie sehr er mich geschätzt hat,“ weiß Behr jetzt. „Dass wir – im Gegensatz zu Fechtern anderer Nationen – keine Furcht vor den erfolgreichen Russen hatten, hat ihm imponiert“, sagt Behr, und erinnert sich: „Das hatte uns unser Trainer Emil Beck energisch eingebläut“.
Behrs Reisenotizen
In vier Tagen gewinnt Behr tiefe Einblicke in das harte Leben Emma Smirnowas in der Ukraine. Vor allem erleichtert ihn, dass kein böses Wort gegen ihn fällt, kein Vorwurf kommt, sondern die besorgte Frage, wie es ihm ergangen ist, mit dem Vorfall.
„Das war nicht zu erwarten,“ schreibt er erleichtert in seine Reisenotizen. „Nein, auch in meinen kühnsten Träumen habe ich damit nicht gerechnet“. Ein kleiner Film, mit einem Handy gedreht, zeigt Behr beim Grillen mit Emmas Familie. „Dann wurde aus der Stimmung heraus gesungen,“ sagt er schmunzelnd. Emma singt ein ukrainisches Volkslied, feierlich, getragen. Die Männer am Tisch fallen ein – und am Ende summt auch Matthias Behr zumindest die Melodie leise mit: „Ich konnte in dem Moment nicht anders.“ Vielleicht ist dies das schönste Bild vom Ende einer tragischen Geschichte.
Einladung zum Gegenbesuch
Vorläufig, sagt Behr – denn er hofft, dass Emma Smirnowa seiner Einladung zu einem Gegenbesuch in Deutschland folgt. Er wirkt nach der Begegnung wie begnadigt, sehr mit sich im Reinen. Auf die Frage, wie er sich jetzt fühle, horcht er einen Moment in sich hinein – und sagt dann den Satz, der ihm noch vor kurzem nicht so leicht über die Lippen gekommen wäre: „Ich bin glücklich!“


