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Miltenberg: Grünen-Politiker Schulze und Scherf: "Wir empfinden uns als ordnende Hand zwischen Populismus und Sachdebatte"

Miltenberg

Grünen-Politiker Schulze und Scherf: "Wir empfinden uns als ordnende Hand zwischen Populismus und Sachdebatte"

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    Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze und Miltenbergs Grünen-Landrat Jens Marco Scherf beim Gespräch über die aktuelle Migrationspolitik - und die Nöte der Kommunen.
    Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze und Miltenbergs Grünen-Landrat Jens Marco Scherf beim Gespräch über die aktuelle Migrationspolitik - und die Nöte der Kommunen. Foto: Thomas Obermeier

    Vor anderthalb Jahren hat Miltenbergs Landrat Jens Marco Scherf mit seinem Auftritt in der ZDF-Talkshow Markus Lanz für bundesweite Schlagzeilen gesorgt: Da warnte der 49-jährige Grünen-Politiker beim Thema Flüchtlinge vor einer Überlastung der Kommunen. Wie hat sich die Situation seitdem entwickelt? Vor einer Woche kam Katharina Schulze, Fraktionschefin der Grünen im bayerischen Landtag, nach Miltenberg, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen und mit Behörden, Helfern und Organisationen zu sprechen.

    Ein Gespräch mit der 38-Jährigen aus München und dem unterfränkischen Landrat über grüne Migrationspolitik.   

    Herr Scherf, Anfang 2023 haben Sie Ihren Hilferuf als Landrat in Sachen Integration und Flüchtlingsunterbringung bei Markus Lanz formuliert. Was hat sich seitdem verändert? 

    Jens Marco Scherf: Die Themen sind auf der politischen Tagesordnung angekommen. Das war bis dahin nicht der Fall. Allerdings hat sich die Problematik noch einmal verschärft und wir stehen weiter vor großen Schwierigkeiten.  

    Frau Schulze, wie könnte der Freistaat Bayern die Landkreise und Kommunen besser unterstützen?

    Katharina Schulze:  Mit Geld. Damit können wir nicht alle Probleme lösen, aber einige doch. Wenn ich mit Vertreterinnen und Vertretern aus den Kommunen spreche, höre ich immer wieder, es braucht mehr Geld. Zum Beispiel für mehr Personal für Beratung, schnellere Verfahren und für die Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten. Das zweite große Thema sind Sprache und Werte. Wir müssen in die Sprachkompetenz investieren. Aber Sprache ist nicht alles. Wer zu uns kommt, hat Rechte. Er hat auch Pflichten, muss sich an unsere demokratische Grundordnung halten. Aber diese Werte müssen wir vermitteln.

    Scherf: Wir haben extrem überlastete Schulen und Kindergärten. Zu den Kindern, die nach Corona jetzt einen größeren Förder- und Unterstützungsbedarf haben, kommt die große Anzahl an Geflüchteten. Wertebildung kann nicht funktionieren, wenn wir das Personal dafür gar nicht haben. 

    Jens Marco Scherf:  "Wir führen seit Jahren politische Debatten, aber wir schauen gar nicht, worum es geht."
    Jens Marco Scherf:  "Wir führen seit Jahren politische Debatten, aber wir schauen gar nicht, worum es geht." Foto: Thomas Obermeier

    Sie haben beide das Thema Werte angesprochen. Dass der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz Jungen aus Migrantenfamilien "kleinen Paschas" nannte, fanden Sie "noch verniedlichend", Herr Scherf. Es gibt Antisemitismus unter Muslimen, es gibt Frauenfeindlichkeit und männliche Dominanz. Frau Schulze, wie sagen Sie dazu?

    Scherf: Darf ich erst kurz was zur Erklärung sagen. Mir ging es auch darum, diese aufregungsgesteuerte politische Diskussion aufzuzeigen. Da sagt Friedrich Merz, "Pascha" und dann ruft die andere Hälfte "Er hat Pascha gesagt, er hat Pascha gesagt!" Das Ganze wird medial befeuert, so führen wir seit Jahren politische Debatten, aber wir schauen gar nicht, worum es geht. Und nach 14 Tagen Aufregung ist alles vorbei und wir haben gar nichts gelöst.

    Schulze: Wir können Probleme nur lösen, wenn wir sie klar benennen. Es gibt Frauenfeindlichkeit, es gibt Queerfeindlichkeit, die sowohl von Menschen mit Migrationsgeschichte ausgeht, als auch von Deutschen. Wir haben als Land Leitplanken, wir haben ein Wertefundament, unser Grundgesetz. Ich erwarte, dass alle Menschen, die hier leben, unsere Werte anerkennen, respektieren und sie leben. Das ist für mich ein zentraler Baustein von Integration, das gehört einfach dazu.

    "Ich erwarte, dass alle Menschen, die hier leben, unsere Werte anerkennen, respektieren und sie leben."

    Grünen-Fraktionsvorsitzende Katharina Schulze

    Sie haben zu Ihren Problemen dem Bundeskanzler einen Brandbrief geschrieben. Hat Olaf Scholz inzwischen geantwortet, Herr Scherf?

    Scherf: Nein

    Katharina Schulze: "In der Migrations- und Integrationspolitik empfinden wir Grüne uns als ordnende Hand zwischen Populismus und der Sachdebatte."
    Katharina Schulze: "In der Migrations- und Integrationspolitik empfinden wir Grüne uns als ordnende Hand zwischen Populismus und der Sachdebatte." Foto: Thomas Obermeier

    Muss Deutschland, um einer europäischen Lösung willen, mehr Kompromisse eingehen und wozu wären die Grünen dazu bereit? 

    Schulze: In der Migrations- und Integrationspolitik empfinden wir Grüne uns als ordnende Hand zwischen Populismus und der Sachdebatte. Die Bundesregierung hat bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gezeigt, dass sie Kompromisse eingeht. Die GEAS-Reform bringt beispielsweise einen gerechteren Verteilerschlüssel in Europa, den wir Grüne immer gefordert haben. Mit der Einigung geht aber leider einher, dass auch Kinder an den Außengrenzen bis zu sechs Monate unter Haftlagerbedingungen leben. Das tut mir sehr weh, das schmerzt alle, vor allem die, die Eltern sind.

    "Es kann doch nicht sein, dass wir erst humanitär sind, wenn die Menschen an der deutschen Außengrenze stehen."

    Jens Marco Scherf, Grünen-Landrat aus Miltenberg

    Wird es weitere für die Grünen schmerzhafte Kompromisse geben müssen, Herr Scherf?

    Scherf: Wenn ich sagen würde, das sind schmerzhafte Kompromisse, dann müsste ich sagen, dass der Zustand jetzt gut ist. In den vergangenen Jahren sind viele Menschen im Mittelmeer ertrunken, auch Kinder. Das ist das Entsetzliche. Wer flieht oder auch für eine bessere Arbeitsperspektive nach Europa möchte, dem bleibt entweder der lebensgefährliche Weg übers Mittelmeer oder über kriminelle Schleuser. Hier auszuloten, wie wir das rechtsstaatlich hinbekommen, ist kein schmerzhafter Kompromiss. Es kann doch nicht sein, dass wir erst humanitär sind, wenn die Menschen an der deutschen Außengrenze stehen. 

    Im Landkreis Miltenberg leben noch 700 bis 800 der Geflüchtete aus den Jahren 2015 und 2016. Haben die Arbeit, eigenen Wohnraum, sind die integriert?

    Scherf: Teilweise haben die schon die deutsche Staatsbürgerschaft erworben. Wir haben unter denen, die 2015 oder 2016 zu uns gekommen sind, Beispiele für eine hervorragende Integration. Aber wir haben auch Negativbeispiele, wo es nicht gut gelungen ist.    

    Müssen die Grünen ihre bisherige Haltung in der Migrationspolitik ändern und neue Antworten finden, um das Thema nicht den Rechten zu überlassen?

    Schulze: Wir Grüne stehen unverhandelbar zum Grundgesetz und damit zum Recht auf Asyl. Gleichzeitig gibt es Regeln, an die man sich halten muss. Wer nach individueller Prüfung kein Aufenthaltsrecht erhalten hat, kann man hier nicht bleiben. Rechte und eben auch die Pflichten sollten wir in Zukunft offensiver benennen. Alle demokratischen Parteien sollten sich zudem zu Herzen nehmen, inhaltlich hart in der Sache zu streiten, aber mit Anstand und Respekt. Und die Probleme lösen, die da sind, sonst stärken wir die Rechtspopulisten, die unsere Demokratie zerstören wollen. 

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