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Als Klein-Alice über die Wiese tobte

Bad Königshofen

Als Klein-Alice über die Wiese tobte

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    "Da oben haben sie gewohnt", erinnert sich der 76-jährige Siegfried Schmidt und deutet auf das obere Stockwerk eines Hauses am Plan von Oberlauringen. Sie, das waren die einjährige Alice und ihre Großeltern Margarete und Ernst Schwarzer. Als die Bomben im Zweiten Weltkrieg auf ihre Heimatstadt Wuppertal-Elberfeld fielen, flüchtete die Familie Mitte 1943, kam über Württemberg in den Landkreis Schweinfurt. In Oberlauringen fanden sie beim Huf- und Wagenschmiedemeister Kaspar Steigmeier Unterkunft.

    "An den Großvater kann ich mich gut entsinnen. Das war ein netter Mann, sehr ruhig. Er war schmächtig und ging so nach vorne gebückt", weiß Siegfried Schmitt. Sein Vater führte damals die kleine Landwirtschaft schräg gegenüber, zuständig war er auch für die Milchsammelstelle. Der damals 16-jährige Siegfried half dem Vater dabei, klebte die Marken auf, wenn Leute wie Ernst Schwarzer Vollmilch oder Magermilch holten.

    "Die Frau habe ich kaum gesehen, die ging nicht viel aus dem Haus", denkt Schmidt zurück. Auch das Baby Alice ist ihm kaum erinnerlich. Was sollte ein 16-jähriger Junge auch damit anfangen können? fragt er. Und: Es waren damals ja so viele fremde Leute im Dorf, Ausgebombte und Flüchtlinge. Der Großvater war es vor allem, der sich um das kleine Mädchen Alice kümmerte. Der Besitzer zweier kleiner Tabaklädchen in Elberfeld hatte, als seine Tochter Erika am 3. Dezember 1942 das Kind unehelich geboren hat, darauf bestanden, dass die Kleine bei ihm und seiner Frau ein Zuhause findet. Die Tochter war kurz nach der Geburt in eine überstürzte Ehe nach Wien geflüchtet, die Großeltern zogen Alice auf.

    Siegfried Schmidt zeigt die Kopie eines Fotos, auf dem ein Mann mit Hornbrille, Ernst Schwarzer, ein kleines pummeliges Mädchen mit Mütze, kurzem Kleid und Stiefel auf dem Arm trägt. "Das könnte im Hof der Schmiede aufgenommen sein", glaubt er die Fenster im Hintergrund zu erkennen.

    "Ich hab' nicht so viel gefragt", nach dem Beruf, der Herkunft, den Umständen, sagt Schmidt. "Ja wenn ich damals gewusst hätte, was für eine berühmte Enkeltochter der Mann mal haben wird", lacht der 76-Jährige.

    Im benachbarten Stadtlauringen kommt die Familie Schwarzer später, wohl 1944 oder 1945, in dem großen Haus von Michael Hohn in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung unter, laut Einwohnermeldeamt in der Schweinfurter Straße 1c. Von den damaligen Hofbesitzern lebt heute niemand mehr. Aber ein ehemaliges Nachbarsmädchen, Heidrun Kranig, geborene Brand, erinnert sich.

    "Sie hüpfte da morgens immer heraus, wenn ich auf dem Weg zum Kindergarten war". Gemeinsam gingen die Mädchen dann zur Betreuungseinrichtung, in der sie von den katholischen Erlöserschwestern beaufsichtigt wurden.

    "Der Name Alice, den gab's bei uns überhaupt nicht", versucht die heute in Lohr lebende Heidrun Kranig das Verhältnis zu dem Mädchen zu erklären. Zwar hätte sie, und vor allem ihre ältere Schwester Margit, geboren 1941, häufig mit Alice in der Gartenlaube des Hohnschen Hauses gespielt. Aber richtige Freundinnen waren sie nicht.

    "Sie wirkte vernachlässigt, fast verwahrlost auf mich als Kind. Meine Schwester dachte früher sogar, sie hätte in der Laube gehaust, als hätte sie kein Zuhause." Die Großmutter, die sich nicht sehr um Alices Erziehung kümmerte, war es vor allem, die den kleinen Kindern fast Angst einflößte. "Sie trug oft ein Tuch um den Kopf, wie einen Turban", erinnert sich Heidrun Kranig an das ungewöhnliche Aussehen der wortkargen Frau.

    Für Alice war diese Zeit offenbar ein Kinderparadies: "Sie ist immer unterwegs, läuft zu den Tieren in die Ställe, geht auch gern in die Häuser der Nachbarn, wo es, wenn sie Glück hat, vielleicht gerade etwas zu essen gibt, und spielt in den Gärten der Freunde", heißt es in einer Biografie über die heute 61-jährige Herausgeberin der Zeitschrift "Emma". Die Frauenrechtlerin selbst sagt heute, dass sie "sehr frei aufgewachsen" sei.

    Ein Jahr früher als üblich, wohl im September 1948, wird Alice in Stadtlauringen eingeschult, denkt Heidrun Kranig zurück. 1950, so das Einwohnermeldeamt Stadtlauringen, dürfen die Schwarzers nach Wuppertal zurückkehren. Die freie Erziehung, die Alice genoss, hieß aber auch, dass sich niemand recht um sie kümmerte. Alice übernahm daher zwangsläufig früh Verantwortung. In der Schule entwickelte sie sich zu einer tonangebenden Person, die ihre Fähigkeit entdeckte, verbale Gefechte zu führen. Dies und die Erkenntnis, dass "Gerechtigkeit ein ganz zentraler Impuls meines Denkens und Handelns war. Und ist", wie Alice Schwarzer heute selbst sagt, prägten ihr bewegtes Leben. Als Journalistin, Autorin und Verlegerin zeigt sie seit den 70-er Jahren konsequentes Engagement für Frauen.

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