Julia knuddelt doch so gerne. Liebkosungen und Körperkontakt zu Mama und Papa sind ihr wichtig, auch mit 41 Jahren. Doch Julia darf ihre Mama Brunhilde, ihren Papa Ernst und auch ihre fünf Jahre ältere Schwester Katja nicht treffen. Seit einigen Wochen schon. Denn wo Julia Hergenhan lebt, hat das Coronavirus alles verändert: das Wohnheim der Lebenshilfe für behinderte Menschen in Mellrichstadt (Lkr. Rhön-Grabfeld). Und auch das Leben der Familie Hergenhan ist seitdem ganz anders als sonst.
Julia Hergenhan, die schwer geistig behindert ist, hatte das Coronavirus - wie auch 21 ihrer 24 Mitbewohnerinnen und Mitbewohner in der Einrichtung der Lebenshilfe Rhön-Grabfeld auf dem Mellrichstädter Hainberg. Angesteckt haben sich auch Julias Eltern. Das muss am vorletzten Septemberwochenende passiert sein, bevor klar wurde, dass eine Infektionskette von einer Hochzeitsfeier bei Bad Königshofen bis zu den Einrichtungen der Lebenshilfe reicht.
Tochter und Eltern steckten sich an
"Wir holen Julia jedes Wochenende aus dem Heim zu uns, damit die Familie Zeit zusammen genießt", erzählt Brunhilde Hergenhan. "Wir essen gemeinsam, machen einen Spaziergang. Ganz besonders liebt es Julia, wenn ihr Vater sie durch die Rhön fährt mit dem Auto", sagt die Mutter.
Während Julia mit ihrer Familie ein unbeschwertes Wochenende verbrachte, vollzog sich für den Landkreis Rhön-Grabfeld eine brisante Entwicklung: Bei einer Hochzeitsfeier eine Woche zuvor hatten sich viele Gäste infiziert. Ein Hochzeitsgast war Mitarbeiter der Lebenshilfe in Hohenroth. Dort gibt es ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung, die zumeist in der benachbarten Werkstätte der Lebenshilfe Schweinfurt arbeiten. Der Test eines Mitarbeiters fiel positiv aus, er kam in Quarantäne. In Hohenroth wurden keine weiteren Fälle registriert. "Aber offensichtlich kam es über ein Betriebsratstreffen zu einem Kontakt nach Mellrichstadt in das Wohnheim", beschreibt Brunhilde Hergenhan die vermutete Infektionskette.

"Als die Fälle in Bad Königshofen bekannt wurden, haben wir uns noch unbesorgt gefühlt. Als dann in Mellrichstadt die Infektionen festgestellt wurden, haben wir nur gedacht: Was ist mit unserer Tochter?", schildert die Mutter die ersten sorgenvollen Stunden und Tage. Für den 24. September war eine Reihentestung unter den Heimbewohnern mitsamt Personal anberaumt. Brunhilde Hergenhan machte sich Gedanken, ob Julia das über sicher ergehen lassen würde. Ihre Tochter ist auf dem geistigen Stand eines Kleinkindes. Wie würde sie auf fremde Personen und die unangenehme Prozedur reagieren? Das Ganze hätte im Fiasko enden können.

Doch alles verlief ohne Probleme. "Sie hat sogar gelacht über die Menschen, die in Schutzanzügen und Masken plötzlich kamen", erzählt Brunhilde Hergenhan und lächelt dabei. Doch dann stand das Testergebnis fest: Julia war mit dem Coronavirus infiziert. Auch Brunhilde Hergenhan und ihr Mann wurden positiv getestet. Nur Julias Schwester Katja, die ebenfalls an den Wochenenden die Gemeinschaft mit ihrer behinderten Schwester genießt, war nicht infiziert.
Für die Lebenshilfe Rhön-Grabfeld, deren Vorsitzende Brunhilde Hergenhan ist, war es die zweite Hiobsbotschaft innerhalb weniger Wochen. In der zweiten Schulwoche musste der Schulbetrieb in der Förderschule der Lebenshilfe in Unsleben eingeschränkt werden, nachdem ein Corona-Fall bekannt wurde. Zwei Klassen kamen in Quarantäne. Dabei hatte man nach dreijährigen Sanierungsarbeiten die Wiedereröffnung eigentlich standesgemäß feiern wollen.
Nur leichte Symptome
Nun also das Lebenshilfe-Wohnheim und dazu die eigene Familie. "Natürlich macht man sich Gedanken. Um die Tochter und um sich selbst", sagt Brunhilde Hergenhan. Julia musste mit fünf Mitbewohnern auf die Isolierstation umziehen, die innerhalb kürzester Zeit im Wohnheim eingerichtet wurde. Menschen mit Behinderung brauchen oft feste Strukturen - räumlich wie zeitlich. "Aber Julia hat das top weggesteckt, ganz ohne Probleme", erzählt die Mutter stolz. "Das habe ich auch von den anderen Bewohnern gehört, das ging ziemlich unproblematisch."
Auch die Infektion verlief bei Julia und ihren Eltern glimpflich. Alle drei hatten nur leichte Symptome.
"Die Mitarbeiter im Wohnheim haben das ganz toll gemacht in den vergangenen Wochen", sagt Hergenhan. Als die Masseninfektion feststand, wurde die Isolierstation aufgelöst, stattdessen wurden die zwei nicht-infizierten Patienten abgetrennt vom Rest. Die Mitarbeiter gingen in dieser Zeit bis an ihre Grenzen. Aus anderen Häusern übernahmen Kolleginnen und Kollegen Dienste. Nach Rücksprache mit dem Gesundheitsamt traten sogar auf das Virus positiv getestete, aber symptomfreie Mitarbeiter ihre Schicht an, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. "Diese Wochen sind auf jeden Fall die größte Herausforderung bisher gewesen", sagt Hergenhan, die seit über 30 Jahren bei der Lebenshilfe aktiv ist.
Drei Testungen hintereinander positiv
Auch privat war die Infektion eines Teils der Familie belastend. "Während bei meinem Mann am 30. September keine Virenlast mehr festgestellt wurde, wurde ich insgesamt dreimal positiv getestet", erzählt Hergenhan. Erst seit etwa einer Woche gab es für sie Entwarnung. Den letzten Test musste Brunhilde Hergenhan bei ihrem Hausarzt selbst organisieren, einen vierten Test habe das Gesundheitsamt nicht mehr für nötig befunden. Doch ohne einen negativen Test wollte sie ihre Quarantäne nicht beenden. Sie hatte sich in Julias Zimmer zurückgezogen, um Abstand zu ihrem Mann zu halten.

Mitte Oktober ist eine 81-jährige Bewohnerin des Wohnheims nach tagelangem Krankenhausaufenthalt an den Folgen ihrer Covid-19-Infektion gestorben. Eine traurige Nachricht für die Heimbewohner. "Natürlich wird darüber im Heim gesprochen, es wurde auch eine Erinnerungsecke eingerichtet", erzählt Brunhilde Hergenhan.
Aus einem Würfel ertönt die Stimme der Mutter
Den Kontakt zu Julia vermisst die ganze Familie. Immerhin soll die Quarantäne nur noch bis diesen Sonntag bestehen, dann könnte sie schon am nächsten Wochenende wieder auf Heimatbesuch nach Mittelstreu geholt werden. Solange muss Julia mit WhatsApp-Telefonaten vorlieb nehmen. Und mit ihrer Toniebox. Das ist ein Würfel mit Lautsprecher. Julias Mutter kann mit dem Smartphone Aufgenommenes an ihre Tochter schicken - und Julia kann sich diese Aufnahmen mithilfe der Toniebox anhören. So schafft ein Spielgerät eine Nähe, die körperlich gerade nicht möglich ist. Noch nicht.