Das Wort vom Ende der Welt war nur allzu geläufig, wenn die Rede von der Schanz war. Jenem Flecken Erde, der die Existenz zweier deutscher Staaten brutal vor Augen führte. Der Grenzübergang zwischen Eußenhausen und dem thüringischen Henneberg vertiefte noch diesen trennenden Charakter. So war die Schanz für Bundesbürger ein Bild für das Ende der Welt, jahrzehntelang. Und wurde doch für Tausende DDR-Bürger zum Tor in den Westen – dank einer Sternstunde deutscher Geschichte. Die Schlagbäume öffneten sich, die Grenze ging auf in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989.
„Wahnsinn, unfassbar, unvorstellbar“ – drei Worte nur, die den Menschen hüben wie drüben immer wieder über die Lippen kamen, seit der erste Trabi um 3.40 Uhr über die DDR-Grenze nach Bayern rollte. Egon Listl aus Meiningen beispielsweise ließ keine Zeit verstreichen, schon um 5 Uhr war er in Mellrichstadt. Er stellte seinen Trabi auf dem Marktplatz ab, bummelte durch die Straßen und sah sich an den Auslagen satt. „Heute wird nicht gearbeitet, wir haben alle frei!“, bekannte er freimütig. Ein ganz besonderer Freudentag war es auch für Karl-Heinz Emmrich aus Rentwertshausen. Mit seiner Frau war er aufgebrochen und erlebte seinen Geburtstag in Mellrichstadt. „Mein schönstes Geschenk überhaupt“, freute er sich über alle Maßen.
Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls und der Grenzöffnung erinnern wir an weitere Glücksmomente von Menschen, für die ein Traum in Erfüllung gegangen war. Wie für den Mann aus Schwickershausen, dem DDR-Nachbarort hinterm Zaun von Mühlfeld. „35 Jahre hab’ ich hinüber zu euch geschaut. Und heute ist der Tag, wo ich von dieser Seite aus hinüber auf meinen Garten gucken kann“, sagte er mit belegter Stimme. Nie im Traum hätte er je daran gedacht, dass die Grenze einmal aufmacht. Bei aller Neugier ist der Mann aus Schwickershausen jedoch besonnen geblieben: „Nur mal schauen, wie es bei euch ist, dann geht’s wieder heim.“
Ein 35-jähriger Thüringer, Heizer von Beruf, der um 4 Uhr früh zur Arbeit gefahren war, machte eine Stunde später kehrt, packte die Frau mit den Worten ins Auto: „Komm, wir fahren einmal rüber!“ Ohne zu wissen, dass es auch klappt. Es hatte sich für das Ehepaar dann doch gelohnt, denn es schwärmte vom Kaffeegenuss, den das Paar in einem West-Café genießen durfte. Aus Schmalkalden war ein Ehepaar unterwegs, das die Gelegenheit der offenen Grenze beim Schopfe gepackt hatte, um über das Wochenende Verwandte im Spessart aufzusuchen. Aus Meiningen stammten die vier jungen Leute, die am Donnerstagabend noch nichts Genaues über die Grenzöffnung erfahren hatten. Erst am Freitagmorgen war ihnen auf der Arbeit klar geworden, welche Chance auf sie wartete: „Das hätten wir uns nie träumen lassen. Also haben wir gedacht: Jetzt oder nie!“ Als DDR-Touristen wollten sie in Mellrichstadt nur mal gucken, um dann wieder zurück ins Thüringer Land zu fahren.
Aus dem Bezirk Suhl stammte die Familie, die bereits kurz nach 6 Uhr den Grenzübergang Eußenhausen ansteuerte. Mit dem Ziel, „einmal die andere Seite von Deutschland zu sehen“. Die Familie hatte keine Zeit verstreichen lassen, als sie die Nachricht von der Öffnung der Grenze erreichte. Und an der Grenze wurden der Familie in dieser Nacht keine Steine in den Weg gelegt, es hatte keine Probleme gegeben – „man muss wirklich sagen, die Volkspolizisten waren sehr, sehr freundlich“.
Eilig war in Mellrichstadt für die Besucher aus der DDR ein Willkommens-Paket geschnürt worden. So durften sie die Gastfreundschaft der Landsleute aus dem Westen in vollen Zügen genießen. Als Bewirtungslokale öffneten die erst neu eingerichtete Wärmestube der Stadt sowie der VG-Schlosskeller ihre Türen, die Werbegemeinschaft stillte mit einem Bratwurststand auf dem Marktplatz jeglichen Hunger.
Sein Glaube war unerschütterlich gewesen. Fritz Steigerwald, damaliger Landrat im Rhön-Grabfeldkreis, war felsenfest überzeugt, dass die Teilung Deutschlands eines Tages überwunden wird. Den ersten Schritt dahin sah er mit dem Mauerfall und der Grenzöffnung gekommen. Nur allzu gerne hätte er jeden Neuankömmling per Handschlag begrüßt. Doch das Amt des Kreischefs hatte ihn in die Pflicht genommen, deutlich zu sehen beispielsweise bei der Auszahlung des Begrüßungsgelds. Als nämlich am Wochenende abzusehen war, dass die Geldreserven knapp werden, beschaffte Steigerwald höchstpersönlich das Geld im Nachbarlandkreis Bad Kissingen. Mit 450 000 Mark, deponiert in einer Plastiktüte auf dem Beifahrersitz, kehrte er zurück und stellte so die Auszahlung des Begrüßungsgelds sicher. Insgesamt waren im Landkreis Rhön-Grabfeld 30 Millionen Mark ausgezahlt worden.
Bleibt noch diese Frage zu klären: Wie ist es den Wagemutigen ergangen, die das Experiment der freien Reise in die andere Richtung probten? Mellrichstadts Bürgermeister Oskar Herbig, sein Stellvertreter Ferdinand Müller und VG-Geschäftsstellenleiter Hubert Storath versuchten ihr Glück, ohne Formalitäten in die DDR einzureisen. Beim zweiten Kontrollpunkt allerdings war für sie der Reisetraum ausgeträumt. Stopp – ohne Visa und Zwangsumtausch kein Eintritt in den Arbeiter- und Bauernstaat. Einige Wochen später, zu Weihnachten, war es dann mit der Visa-Pflicht für Bundesbürger bei der Einreise in die DDR vorbei.