Ein prüfender Blick auf die Füße der Kundinnen genügt in den meisten Fällen – dann zieht Erika Grosser den passenden Schuh aus dem Regal. Ihr Kennerblick kommt nicht von ungefähr: Seit 48 Jahren bedient die gelernte Einzelhandelskauffrau die Kunden im Schuhhaus Link in Mellrichstadt, ist Ansprechpartnerin für Wehwehchen am Fuß und hört auch zu, wenn die Kunden im Privaten mal der Schuh drückt. Doch der Countdown läuft: Die letzte Arbeitswoche von Erika Grosser ist angebrochen. Am verkaufsoffenen Sonntag, 30. September, sagt die Mittelstreuerin dem Arbeitsleben ade.
„Erika gehört schon nicht mehr zu der Generation, die mich noch in den Kindergarten gebracht hat“, sagt Chef Hans Georg Link verschmitzt. Das sagt viel aus über die familiäre Atmosphäre, die im Schuhhaus Link herrscht. Helga Langenbrunner, die vor 14 Jahren in den Ruhestand ging, hat den kleinen Hans Georg noch an der Hand in den Hort geführt. Als Erika Grosser am 1. August 1970 mit 15 Jahren ihre Lehre begann, war „Lurchi“, wie der Chef gern genannt wird, den Kinderschuhen schon entwachsen.
Von der Lehre bis zur Rente bei Schuh Link
Erika Grosser, die nach drei Jahren Lehrzeit übernommen wurde, hat ihr ganzes Arbeitsleben im Schuh- und Sportgeschäft Link verbracht – das ist etwas Besonderes und kommt heutzutage nur noch selten vor. Und war so auch nicht abzusehen, als Hans Georg Link 1972 seine Lehrzeit begann, um die Familientradition im Schuhhandel fortzusetzen. „Wenn du mein Chef wirst, kündige ich“, hatte Erika Grosser zu dieser Zeit nach einem Wortgefecht mit dem Junior angekündigt. Es kam anders – heute blicken Hans Georg und Christine Link wie auch Erika Grosser mit Wehmut auf die letzten gemeinsamen Tage im Geschäft.
1986 hatten Hans Georg Link und seine Frau Christine das Geschäft von seinen Eltern übernommen – „und Erika gleich mit“, wie sie lachend erzählen. Von 1982 bis 1995, als die Links ein zweites Schuhgeschäft in Ostheim unterhielten, lenkte die Mittelstreuerin als Filialleiterin die Geschicke des Ladens. Und war bei den Kunden, wie zuvor und auch danach wieder in Mellrichstadt – gleich sehr beliebt. Kein Wunder: „Erika weiß oft schon beim Auspacken, welcher Schuh für welche Kundin genau der richtige ist“, lobt Hans Georg Link. Und das wissen die Kunden – neben der familiären Atmosphäre im Laden – zu schätzen.
Schuhmacher-Tradition liegt in der Familie
1874 wurde das Schuhhaus von Hans Georg Links Urgroßvater, dem Sohn eines Fuhrmanns aus Stockheim, gegründet. Er eröffnete in der unteren Hauptstraße in Mellrichstadt eine Schuhmacherei samt Schuhhandel – eine Entscheidung mit Weitblick, wie Link erklärt. Denn damals wurden Schuhe maßgefertigt, Handel mit Schuhwerk wurde üblicherweise noch gar nicht betrieben. Die Pionierarbeit zahlte sich aus, Sohn Georg führte das Geschäft mit seiner Frau Emma weiter und zog an den Roßmarkt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg Georgs Sohn Hans – Hans Georg Links Vater – ins Geschäft ein und erwarb das Anwesen in der Hauptstraße 32 für seine Schuhmacherei samt Schuhhandel, 1969 wurde der Laden mit dem Kauf des Nachbaranwesens in der Hauptstraße 34 vergrößert. Während Hans Link in der Werkstatt Schuhe anfertigte und reparierte, stand seine Frau Elisabeth im Laden und bediente die Kunden. „Wir sind eines der letzten Schuhgeschäfte in der Region, denen traditionell das Schuhmacherhandwerk zugrunde liegt“, sagt Hans Georg Link stolz. Heute fertigt er zwar keine Schuhe mehr an, repariert sie allerdings noch. Dafür braucht es fachkundiges Personal, sagt der Chef – darauf legt er auch bei seinen Angestellten großen Wert.
Nicht nur Job, sondern ein Teil des Lebens
Erika Grosser hat vier Generationen im Schuhhaus Link erlebt – ihr Praktikum vor der Lehre hat sie noch bei Emma Link absolviert und sie hat Hans Georg und Christine Links Tochter Katharina mit aufwachsen sehen. Die 24-Jährige ist zwar noch nicht in die Branche eingestiegen, „aber vielleicht ändert sich das ja noch“, sagt Hans Georg Link augenzwinkernd. Die enge Beziehung zwischen den Links und ihren Angestellten ist ein Aspekt, der Erika Grossers Arbeitsleben verschönt hat. Doch auch die teils sehr persönlichen Kontakte zu den Kunden, die über Jahrzehnte gewachsen sind, haben den Arbeitsalltag nie langweilig werden lassen. „Viele Leute kommen in den Laden und wollen von Erika bedient werden. Das ist nicht nur ein Job, das ist ein Teil des Lebens“, bringt es der Chef auf den Punkt. „Zumal für Frauen das Thema Schuhe ohnehin ein ganz spezielles ist“, wie er augenzwinkernd anfügt.
Im Ruhestand hat Erika Grosser künftig nur noch ihre eigenen Schuhe im Blick. „Ich habe sie nie gezählt, aber es sind doch einige“, sagt die gebürtige Unterwaldbehrungerin lachend. Ihr Mann habe sie, als sie mit einem neuen Paar nach Hause kam, schon mal gefragt, ob es bei Links auch Schuhschränke zu kaufen gibt. Pläne für den neuen Lebensabschnitt will Erika Grosser nicht machen. „Ich bin froh, dass ich gesund bin, und will den Ruhestand genießen, was auch immer kommt.“