Ein altes Volkslied, nach einem Text von Matthias Claudius (1740-1815), lieh der ersten Veranstaltung von „Mellrichstadt liest“ im neuen Jahr das Motto: „Der Winter ist ein rechter Mann“. Wenn sich auch heuer kein rechter Winter mit Eis und Schnee einstellen will und die milden Temperaturen schon an den nahenden Frühling erinnern, so lockte das Thema am Sonntag doch zahlreiche Literaturfreunde ins Café Art der Kreisgalerie. Über ein proppenvolles Haus freuten sich insbesondere das Moderatoren-Duo Fred Rautenberg und Janette Fraas, die mit dem Ehepaar Renate und Stefan Brandstädter zwei Germanisten und versierte Gastleser begrüßen durften.
Passend zum Jahresbeginn, der oft von vielen Vorsätzen begleitet wird, stellte Janette Fraas zum Auftakt „Zehn gute Vorsätze, nur für heute“ vor, die Papst Johannes XXIII. zugeschrieben werden. In der Lyrik wird das Thema Winter oft als Sinnbild für den Tod und die Vergänglichkeit, aber auch für die Hoffnung und die Zuversicht verwendet. So auch im Gedicht „Winternacht“ von Joseph von Eichendorff, einem der bekanntesten Dichter der Romantik, das Rautenberg vorstellte.
Unfall oder Mord?
Einem völlig anderen Genre widmete sich Renate Brandstädter. Sie las Auszüge aus dem Roman „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ aus der Feder des dänischen Schriftstellers Peter Hoeg vor. Die Handlung beginnt damit, dass ein kleiner Junge vom Dach stürzt und stirbt. Alle gehen von einem tragischen Unfall aus, doch Fräulein Smilla verfügt als Halb-Inuit über die besondere Gabe, Schnee zu „lesen“. Sie ist sich aufgrund der Schneespuren auf dem Dach sicher, dass der Junge ermordet wurde. Sie macht sich auf die Suche nach den Mördern und kommt dem Verbrechen auf die Spur.
Hoegs Buch ist aber nicht nur ein Kriminalroman. Der Leser erfährt viel über die Kultur der Inuit und beschreibt auf eindrucksvolle Weise die einsamen Landschaften Grönlands. Zwar wertete das Literarische Quartett das Werk als schwachen Kriminalroman, international avancierte es allerdings zum Bestseller und bekam beste Kritiken.
Von einer weiteren dramatischen Begegnung von Mensch und Schnee erzählt die Kurzgeschichte „Feuer im Schnee“ des englischen Autors Jack London, einem Meister der Abenteuerromane. Fred Rautenberg hatte diese „Geschichte zum Frösteln“ ausgewählt, deren deutsche Ausgabe von 1968 im Übrigen von Irmhild Brandstädter, der Mutter von Gastleser Stefan Brandstädter, aus dem Amerikanischen übersetzt wurde. Sie handelt von einem Goldsucher, der sich mit seinem Hund durch die Schneewüste Alaskas auf dem Weg zum Lager seiner Gefährten macht. Als sein wärmendes Feuer vom Schnee erstickt wird, hofft er zunächst auf Rettung, verliert aber dann den Kampf gegen die Eiseskälte. Ihm bleibt nur, dem Tod mit Würde zu begegnen.
Óskar Árni Óskarsson ist in seinem Heimatland Island ein viel gelesener Autor und mehrfacher Literaturpreisträger. In Deutschland sind seine Bücher relativ unbekannt, sehr zum Bedauern von Janette Fraas. Sie stellte eine winterliche Episode aus Óskarssons Buch „Das Glitzern der Heringsschuppe in der Stirnlocke“ vor, das erst vor knapp einem Jahr in deutscher Sprache erschienen und, wie der Titel schon verrät, ein sehr poetisches Werk ist, obwohl es gleichzeitig die Geschichte seiner Familie erzählt.
Hans Christian Andersen ist Schöpfer unzähliger Geschichten und Märchen, die nicht nur Kinder faszinieren. Zu seinen berühmtesten Kunstmärchen gehört „Die Schneekönigin“, die Stefan Brandstädter ausgesucht hatte und mit ausdrucksstarker Erzählstimme vortrug. Die Geschichte, in deren Zentrum die beiden Kinder Kai und Gerda stehen, beginnt mit einer List des Teufels, der die Splitter eines zerbrochenen Spiegels auf die Erde fallen lässt.
Im Schloss der Schneekönigin
Kai wird von einem Splitter getroffen und ist fortan unfähig zu lieben. Er wird kalt und herzlos. Als er der schönen Schneekönigin begegnet, folgt er ihr auf ihr Schloss, wo es keine Fröhlichkeit gibt. Gerda macht sich auf die Suche nach ihrem Freund und besteht viele Abenteuer, bis sie Kai durch ihren Mut und vor allem durch ihre Liebe erlösen kann. Andersens „Schneekönigin“ ist ein poetisch-fantastisches Märchen und zugleich eine Parabel auf den Verstand, der ohne die Liebe nichts ist.
Mit „Münchhausens unglaubliche Abenteuer“ von Gottfried August Bürger und „Heller Morgen“ von Börries Freiherr von Münchhausen widmeten sich anschließend Rautenberg und Fraas dem heiteren Lesestoff. Das Publikum amüsierte sich köstlich über die unglaublichen Reisebeschreibungen des Lügenbarons. Zum Abschluss des interessanten Lesenachtmittags rezitierte Janette Fraas „hoffnung“ und „frost“, zwei eindringliche Gedichte des Mellrichstädter Autors Michael Graf, während Fred Rautenberg noch einmal mit einer amüsanten, in Tagebuchform geschriebenen „Wintergeschichte“ eines unbekannten Verfassers beim Publikum für Erheiterung sorgte.