Junge Leute stellen sich die Dinge manchmal sehr einfach vor. „Warum haben Sie Deutschland nicht verlassen, nach allem, was man Ihnen hier angetan hat“, möchte ein Schüler wissen. Gert Schramm nimmt die Frage nicht übel. Vermutlich hat er sie schon oft beantwortet. Er lädt auf eine kleine Zeitreise ins Jahr 1945 ein: „Es herrschte damals überall Armut. Überall waren so viele Ausländer unterwegs, die zurück in ihre Heimat wollten. Deutschland war meine Heimat. Ich bin hier aufgewachsen. Warum sollte ich Deutschland verlassen? Und wohin hätte ich gehen sollen? Ich werde Deutschland nicht mehr verlassen, außer 1,80 Meter unter der Erde.“
Gert Schramm hört sich an wie ein ganz normaler Thüringer: der Akzent (mit Berliner Einsprengseln), der schnoddrige Humor. Er sieht allerdings nicht aus wie ein ganz normaler Thüringer. Seine Haut ist dunkel. Sein Vater war der afroamerikanische Ingenieur Jack Bransken, der in der Endzeit der Weimarer Republik für eine US-Firma in Deutschland arbeitete und ein Kind mit der Deutschen Marianne Schramm hatte. Das Letzte, was Gert Schramm von seinem Vater weiß, ist, dass er sich in einem Transport Richtung Auschwitz befand.
Gert Schramm, Jahrgang 1928, lernte fünf Deutschlands kennen, sagt Walter Lenhard, Fachbetreuer für Geschichte und Sozialkunde am Bayernkolleg und Betreuer des Projekts „Zeitzeugengespräche“ der Schule, in dessen Rahmen zuletzt Charlotte Knobloch zu Gast war. Diesmal also Gert Schramm, geboren in der Weimarer Republik, schikaniert und inhaftiert im NS-Staat, gequält und beinahe umgebracht im Konzentrationslager Buchenwald, Bürger der BRD, der DDR und schließlich der wiedervereinigten Bundesrepublik.
Gert Schramm galt im NS-Staat als „reichsdeutscher Farbiger“, als „Mischling ersten Grades“, bei dem „Nürnberger Rassegesetze“ und „Blutschutzgesetz“ Anwendung fanden. In der Schule wurde er vom Lehrer, einem 150-prozentigen Nazi, als „Negerbastard“ schikaniert. Am 20. Juli 1944, dem Tag des Attentats auf Hitler, wurde er nach einem Jahr „Schutzhaft“ in Gestapogefängnissen ins KZ Buchenwald eingeliefert. Da war er gerade mal 15 Jahre alt.
Gert Schramm überlebte, weil ihn ältere Lagerinsassen – Kommunisten oder SPD-Mitglieder – unter ihre Fittiche nahmen. Dafür sorgten, dass er aus dem „Kommando Steinbruch“, bei dem pro Tag acht bis zehn Menschen starben, an einen weniger mörderischen Posten versetzt wurde. Er überlebte, weil er, der auffällig Dunkelhäutige, lernte, sich für die SS-Wächter unsichtbar zu machen: „Notfalls kroch ich in einen leeren Müllkübel.“
Und er überlebte, obwohl er in die Hände des sadistischen Lagerarztes geriet, der Häftlingen sonst schon mal Benzin in die Adern spritzte oder sie ohne Betäubung operierte. „Der muss einen guten Tag gehabt haben“, kommentierte ein Mithäftling, nachdem sich Gert Schramm halbtot zurück in den Block geschleppt hatte.
Ob er denn niemals eine Geste des Mitgefühls bei einem Aufseher erlebt habe, möchte ein Schüler wissen. Die SS hatte 800 Mann in Buchenwald. Schon möglich, dass einer, zwei oder drei von ihnen keine Bestien waren, sagt Schramm. „Aber die mussten mit der Masse mitheulen. Ich kann nicht sagen, dass ein SS-Mann darunter war, der gegenüber den Häftlingen menschlich gehandelt hätte.“ Da gab es zum Beispiel den Unterschaftführer Springer. Der schlug – im Gegensatz zu vielen Kollegen – nie einen Häftling. Gehörte aber dem Erschießungskommando 33 an, das 8400 russische Kriegsgefangene ermordete. „Häftlinge waren für den gar nicht existent“, sagt Schramm. „Was also war an dem menschlich?“
Gert Schramm tourt mit 85 Jahren immer noch als Zeitzeuge durch die Schulen. 2011 erschienen unter dem Titel „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ seine Erinnerungen. Er weiß noch jeden Namen. Der Mitinsassen, der Schergen. Die Fragen von Schulleiter Peter Rottmann und der Schüler beantwortet er treulich und ausführlich. Oft leitet er seine Antwort so ein: „Das kann man nicht in drei Worten erklären. Da muss ich weiter ausholen, sonst können Sie das nicht verstehen.“ Was dann folgt, sind präzise und ohne jedes Selbstmitleid erzählte beispielhafte Begebenheiten, Innenansichten des NS-Vernichtungsapparats. Obwohl Buchenwald kein Vernichtungslager war, starben hier nach neuesten Forschungen 58 000 Menschen.
Und es war Buchenwald, durch das die amerikanischen Besatzer (befreit hatten sich die Insassen wenige Tage zuvor selbst) 1000 zufällig aufgegriffene Bewohner Weimars führten und sie zwangen, die Leichenberge anzuschauen, die mangels Koks und Diesel vor dem Krematorium liegen geblieben waren. „Das war für die Leute schon gewöhnungsbedürftig“, sagt Schramm trocken. Er sah Menschen zusammenbrechen, aber auch welche, die lachten. „Die bekamen dann sofort Schläge.“
Im Grunde begann Gert Schramms Mission schon bei Kriegsende. Freiwillig blieb er noch drei Monate in Buchenwald, um den älteren Häftlingen seinen Dank abzustatten, wie er sagt. Und um möglichst viel Information zu sichern. Es galt festzuhalten, wer in Buchenwald gelitten hatte: „Die Menschen waren ja nur Nummern gewesen. Wir haben aus der Häftlingsnummer wieder den Menschen gemacht“, sagt Schramm, der selbst die Nummer 49 489 trug.
Zuhause in Langensalza – die Mutter hatte kaum fassen können, dass er überlebt hatte – machte er erstmal vier bis sechs Wochen gar nichts: „Ich lag auf dem Sofa und legte die Füße hoch.“ Bis eines Tages ein Jeep der Amerikaner vorfuhr. „Mitkommen!“, lautete der Befehl, und Gert Schramm dachte, „jetzt geht die Scheiße schon wieder los“.
Er irrte sich: Die Amerikaner machten ihn, den 17-Jährigen, zum Chef des Heeresverpflegungsamts Erfurt. Begründung: Alle anderen in der Stadt sind Nazis. Schramm durfte aus den Beständen an Kleidern und Lebensmitteln nehmen, was er für sich und seine Familie brauchte, vorausgesetzt, er betrieb keinen Schwarzhandel. So lebten die Schramms eine Weile recht komfortabel. Bis die Russen kamen und alles übernahmen. „Die hatten ja noch weniger als wir.“
Mit der gleichen Beharrlichkeit, mit der er überlebt hatte, arbeitete sich Gert Schramm nach dem Krieg in beiden deutschen Staaten nach oben. Und brachte es fertig, 1985 in der DDR ein privates Bus- und Taxiunternehmen zu gründen. Die Konzession dafür bekam er von Politbüro-Mitglied Hermann Axen, nachdem er sich den Weg in dessen Büro in Berlin ertrotzt hatte. Man kannte sich: Axen und Schramm hatten gemeinsam in Block 42 in Buchenwald gesessen. In diesem Leben kann Gert Schramm wohl nicht mehr allzu viel schrecken. Jedenfalls kein Skinhead, der ihn, wie in Berlin in der Wendezeit geschehen, mit „ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ anblökt. Gert Schramms Antwort: „Ick och, du Rindvieh.“