Angenommen, man sitzt eines schönen Sommersonntags draußen vor einem Café am Marktplatz und trinkt seinen Latte – plötzlich rennt ein Nashorn diagonal über den Platz und verschwindet in einer Seitengasse.
Sie haben noch nie ein Nashorn auf einem Marktplatz dieser Republik gesehen? Dann wird es Zeit, die Meininger Kammerspiele zu besuchen, um sich über die wundersame Vermehrung von Rhinozerossen im Lande schlau zu machen, in Eugène Ionescos Groteske "Die Nashörner", uraufgeführt 1959.
Das Meisterstück des absurden Theaters ist aktuell wie eh und je. Damals ging es Ionesco um die Neigung von Menschen zu totalitären Ideologien. Heute geht es um nichts anderes: um Ängste der Menschen, ihre Sehnsucht nach Einfachheit in unüberschaubaren Zeiten. Um den Wunsch, Teil einer Bewegung zu sein, die vorgibt zu wissen, wo es langgeht.
Wer nicht mitmarschiert, wird zertrampelt. Mit diesem Bild einer bösartigen Kreatur wären die realen Rhinozerosse sicher nicht einverstanden, aber Ionesco geht es um eine passende Metapher für eine Kampfmaschine – und da hat das Nashorn, 'tschuldigung, leider die angemessene Gestalt.

Nun tauchen in der Inszenierung von Sandra Bezler ("Penthesilea") keine Menschen im Nashorngewand auf. Die zu Nashörnern mutierten Menschen tragen uniforme graubraune Turnkleidung. Am Ende werden sie sich – eine eindringliche Szene! – gegenseitig zärtlich mit Schlamm ein- und aneinanderreiben. Außen vor bleibt der letzte Vertreter seiner Art, der Individualist Bérenger (Paul Maximilian Schulze). Der Zögerliche lässt sich dank seiner Zweifel und seines Glaubens an Humanität einfach nicht infizieren.
Kakofonie verschiedenster Alltagsgeräusche
Außergewöhnlich an der Inszenierung ist nicht, dass die Figuren als Vertreter gesellschaftlicher Schichten Charaktermasken sind. Es ist vielmehr die Art, wie die Regisseurin und Paul-Jakob Dinkelacker (in einer Doppelfunktion als musikalischer Spielleiter und Coach) die Gestalten zur Choreografie von Aska M. Borcherding in Bewegung bringt. Eine Kakofonie verschiedenster Alltagsgeräusche, ein Piepsen, Quietschen, Pfeifen und Tröten, das kongenial zu den Bewegungsmustern der Figuren passt.
Sogar Sprachfetzen Björn Höckes und die süße Melodie eines spätromantischen Heimatliedes finden ihren Platz im allgemeinen Volksgemurmel, bevor die stetig wachsende Nashornherde akustisch durch den Raum trampelt.
Klugscheißereien vom Feinsten
Hinzu kommt das stete Aneinandervorbeigeplappere der betroffenen Bürgerinnen und Bürger – Paul Maximilian Schulze, Pauline Gloger, Noemi Clerc, John Wesley Zielmann, Anja Lenßen und Evelyn Fuchs. Wortblasen mit Banalitäten, Gemeinplätzen, Singsang und Klugscheißereien vom Feinsten, die regelrecht nach einem Chor in griechischer Tragödienmanier rufen.

Das Überraschendste jedoch ist das Bühnenbild von Diana Berndt (auch Kostüme): Ein mobiler Turm, von dem aus sich das Treiben da unten kommentieren lässt. Dahinter eine Reihe von sieben Maschendrahtverschlägen mit Kloschüsseln. Aus diesen Kabinen werden die Schauspielerinnen und Schauspieler – die "Equipe" - von einem trillerpfeifenden Coach (Dinkelacker) kollektiv zum Einsatz auf die Bühne gerufen. Ob diese zusätzliche "Metaebene" (Bezler) die Sicht auf Mechanismen von Disziplin, Ordnung und sozialer Kontrolle noch deutlicher macht, bleibt fraglich.

Man könnte interpretieren, dass die Darstellerinnen und Darsteller selbst bereits Gefangene eines Systems sind, das den Boden für die Herrschaft der Nashörner bereitet. So eine vorsätzlich zweifach schief geratene Abbildung der Wirklichkeit kann aber auch, wie die Regisseurin meint, die Betrachtenden zwingen, länger hinzuschauen und genauer zuzuhören.
Und so könnte man tatsächlich mit gespitzteren Ohren und wacheren Augen aus dem Theater gehen, um jedes Nashorn, das aus Seitengassen stürmt, ins Leere laufen zu lassen.
Die nächsten Vorstellungen in den Kammerspielen sind am 13., 20. und 24. Oktober. Karten gibt es unter Tel.: (03693) 451 222. Infos im Internet unter www.staatstheater-meiningen.de