Zurzeit ist vielerorts Pilgern angesagt. Eine andere Art der Meditation, die wir oft gestressten Menschen dringend benötigen. Schon immer haben sich Pilger auf den Weg gemacht, einem großen Ziel entgegen, wie zum Beispiel nach "Santiago de Compostela", zum Grab des heiligen Jakobus, dem Jünger Jesu, und sie tun es noch heute. Der Weg ist das Ziel, so lautet die Devise. Ich selbst bleibe nur mit Staunen zurück und zolle den Pilgern gehörig Respekt.

Schon Goethe sprach vom "Ruf der Seele". Wer diesen Ruf verspürt, macht sich mit einer Wallfahrt auf den Weg, manchmal tagelang, durch grüne Auen, über Berg und Tal zu einem heiligen Ort. Auch ich habe jahrelang an der Kreuzbergwallfahrt teilgenommen und in meiner Erinnerung gehört es zu den schönsten Meilensteinen auf meinem Lebensweg. Ganz abgesehen von den Rückenschmerzen, oder den Füßen, die dringend mit Blasenpflaster versorgt werden mussten.
Dem Himmel eine Stück näher: Wallfahren ist wie Heimkommen
Doch all das ist ein Teil einer Wallfahrt und wird abgelöst durch unbeschreibliche Momente, in denen das Herz vor Freude und Dankbarkeit jubelt, etwa dann, wenn man völlig erschöpft dem Ziel entgegen gewallt ist. Man hört die Glocken der Wallfahrtskirche. "Großer Gott, wir loben dich" erklingt und die Wallfahrer ziehen in die Kirche ein. Es ist ein "Heimkommen". Die Seele und auch der Körper kommt zur Ruhe – dem Himmel ein Stück näher.

Ich denke an die Zeit, in der wir Schulkinder endlich das Alter erreicht hatten, in dem wir schulfrei bekommen haben und an den Bitttagen teilnehmen durften. Da stellte sich Reiselust ein. Es gab immer drei Bitttage. Einmal ging es nach Mühlbach, einmal in die Gartenstadt und dann sind wir nach Hohenroth gewallt. Die Sonne war gerade aufgewacht, die Nebel zogen weiter.
"Das wird heut ein schöner Tag", sprach Mutter, als sie meinen Rucksack für die Fußwallfahrt packte. Es war das erste Mal, dass ich mit meiner Schulklasse nach Hohenroth pilgern durfte. Von der Brotzeit über die Flasche Pfefferminztee bis zu den Pflastern, falls der Schuh drücken sollte, war alles im Rucksack.
Maria Blümm pilgerte mit dem Hausschlüssel und einigen Pfennigen im Gepäck
Auch vertraute Mutter mir den Hausschlüssel an, mit der Anweisung, gut darauf aufzupassen. Aber was sollte da schon passieren! Ich verstaute ihn in der Seitentasche, zusammen mit meinem Geldbeutel. Papa hatte mir fünfzig Pfennige für einen Wallweck spendiert. Oma gab zwanzig Pfennige für eine Brause und Opa ließ sich auch nicht lumpen und opferte fünfzig Pfennige. "Das Kind soll nicht verhungern", meinte er und "vergiss nicht, ein Kerzlein für uns anzuzünden, bei der Mutter Gottes". So konnte ich gut versorgt meine Pilgerschaft antreten.
Treffpunkt war um sieben Uhr auf dem Kirchplatz. Voraus die Ministranten mit Fahnen, Kreuz und die Musikanten. Dann kamen die Männer und mittendrin der Pfarrer. Dahinter wir Mädchen und Frauen. Die Klosterschwestern sorgten für Ordnung und den nötigen Abstand beim Laufen. Es wurden Vorbeterinnen bestimmt, die an der Seite zu gehen hatten. So setzte sich ein langer Zug in Bewegung.

"Beim frühen Morgenlicht", tönte es durch die Gassen und Straßen hinaus aufs weite Feld in Richtung Hohenroth. "Dass du die Früchte der Erde geben, segnen und erhalten wollest", drangen die Bitten der Vorbeterinnen gen Himmel und das fromme Volk erwiderte: "Wir bitten dich, erhöre uns." So eine Wallfahrt hat schon etwas Besonderes. Das durfte ich in diesen Tagen erfahren. Es war zwar keine lange Fußreise, dennoch erlebte ich eine Gemeinschaft ganz anderer Art.
Wallfahren als Gemeinschaftserlebnis: Auf dem beschwerlichen Weg wuchs die Gruppe zusammen
Für uns Mädchen war es eine ganz neue Erfahrung. Wir lernten Mädels von anderen Schulen und Wohngebieten kennen. Es wurden Freundschaften geschlossen und Erfahrungen ausgetauscht. Wir waren wie eine große Familie. Der Weg wurde beschwerlich, die Sonne meinte es so gut mit uns, wir legten eine kurze Pause ein. Am liebsten hätte ich meine Schuhe ausgezogen, aber ich tat es nicht und hob mir das für das Ziel auf.
Nun ging es bergauf. Der Gesang und auch die Gebete wurden leiser. Die Musikanten spielten nicht mehr – ein jeder hatte mit sich selbst zu tun. Und dann war sie zu sehen: die Hohenrother Kirche. Stolz ragte sie, umgeben von Feldern und Wiesen ins Land, eingebettet in die sanften Hügel der Rhön. Die Glocken läuteten und begrüßten uns Wallfahrer. Ein "Gefühl des Beschenktseins" stellte sich ein. Gewaltig erklang das "Te Deum – Großer Gott, wir loben dich", das unsere Ankunft ankündigte. Es sind Augenblicke, die man nie mehr vergisst. Trotz Hitze – Gänsehaut pur!
Wir zogen in die Kirche ein, sagten dem Herrgott "Grüß Gott" und dann gab es auf dem Kirchplatz den beliebten Wallweck und eine Limo. Die Füße fanden im nahegelegenen See erquickende Erholung. Wir Mädchen saßen hier beisammen und hatten uns so viel zu erzählen. Die Rucksäcke lagen neben uns. Rosi hatte den gleichen Rucksack wie ich. Was für ein Zufall! Das sollte mir zum Verhängnis werden.
Ein Moment des Entsetzens: Was die Gebete besonders innig machte
Im Gespräch mit Rosi griff ich in die Seitentasche und holte den Hausschlüssel heraus. Ich zeigte ihr den Schlüssel und kam mir sehr erwachsen vor. Schließlich hatte ich für heute die Schlüsselgewalt. Da erklang der Ruf zum Fertigmachen. Die Prozession ging weiter. Schnell, alles einpacken und los ging es. Es gab nach einiger Zeit auch wieder eine kurze Pause und ich musste nochmal kontrollieren, ob der Schlüssel im richtigen Fach war. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, der Schüssel war weg.
Hektisch durchsuchte ich den Rucksack. Er war nicht zu finden. Tränen liefen mir übers Gesicht. Mir war trotz Hitze kalt. Die Prozession ging weiter. Meine Gebete richteten sich nun an den heiligen Antonius. Er musste mich doch erhören! Mama hat immer gesagt: "Wenn man etwas verloren hat, muss man den heiligen Antonius anrufen, er hilft." Meine Gebete wurden immer inniger und meine Bedenken immer größer, je näher wir unserer Heimat kamen: "Was wird Mama sagen?" Sie würde mir kein Vertrauen mehr schenken, das war das Schlimmste für mich.
Elterliche Vorwürfe und wie das Gewitter letztlich vorüberzog
Bis jetzt hatte sich Antonius Hilfe noch nicht eingestellt, ob überhaupt, da hatte ich so meine Zweifel. Müde und erschöpft kam ich zu Hause an. Mama spürte sofort, dass mit ihrem Mädchen etwas nicht stimmte. So kam es, wie es kommen musste. Es hagelte Vorwürfe und ich hatte dem nichts entgegenzusetzen. Ich wusste nicht, wo der Schlüssel sein könnte. Aber wie jedes Gewitter vorüber zieht, so hellte sich auch hier der Himmel wieder auf.
Am darauffolgenden Tag vertraute ich mich meiner Lehrerin an. Sie gab in der Pause einen Rundruf über Mikrofon durch, den alle Kinder hören konnten. "Wer bei der Wallfahrt einen Schlüssel gefunden hat, möge ihn bitte im Lehrerzimmer abgeben." Nach Schulschluss stand ich mit klopfendem Herzen im Lehrerzimmer. Meine Lehrerin lächelte und sagte: "Bitteschön, kleines Schlampinchen. Nächstes Mal besser aufpassen!"
Rosi hatte den Schlüssel in ihrem Rucksack. Wie er dahin kam? Ich hatte ihn in der Eile in ihren Rucksack gesteckt, sie hatte ja den gleichen. Hatte da nicht der heilige Antonius die Hände mit im Spiel? Ein Dankeschön dem heiligen Antonius und beim Besuch im Marienkapellchen ein Licht anzünden für den Heiligen, das war wohl fällig, denn dort kann man ihn besuchen.
Maria BlümmMaria Blümm wurde 1950 in Bad Neustadt geboren. Bereits ihre Mutter, Großeltern und Urgroßeltern mütterlicherseits waren Neustädter. Von Beruf war sie Friseurmeisterin. Über 50 Jahre war sie in diesem Beruf tätig. Ihre Hobbys sind Geschichten schreiben, Lesen und interessante Lebensbiografien hören. Zum Beispiel im Erzählcafé im Caritashaus in Bad Neustadt, das sie seit über 20 Jahren aktiv unterstützt. Seit ebenfalls über 20 Jahren ist sie Vorsitzende des Frauenbundes Bad Neustadt. Außerdem leitet sie eine Seniorengruppe der Pfarrei Maria Himmelfahrt, den Montagstreff. Sie selbst sagt: "Alles, was mit Begegnung zu tun hat, macht mir Freude. Ich möchte mit meinen Geschichten ein Lächeln auf das Gesicht zaubern und die Leserinnen und Leser für kurze Zeit in das Land der Erinnerung führen."Quelle: sbr