Auch eine gute Freundin, die aus einer gewissen Furcht heraus nicht genannt werden möchte, weiß noch wie heute, dass Waltraud Ess am 7. September 1993 nach 23 Uhr den Aufbruch verhindert hat, indem sie in Spendierlaune eine letzte Flasche ausgab. Dann machte sie sich auf den Heimweg.
Sie lebt in einer ungewöhnlichen Wohnlage, direkt am Autohaus Kuhn, dessen Geschäftsführerin sie ist. Der Betrieb steht relativ frei an der Schweinfurter Straße (das heutige Lidl-Gelände), direkte Nachbarschaft gibt es nicht. Angst hat die resolute Frau eigentlich trotzdem nie gehabt. Weil sie sich aber ein gemütlicheres Umfeld vorstellen kann, hat sie in der Altstadt am Zwingertor ein Wohnhaus gebaut, das kurz vor der Fertigstellung steht.
Den Einzug wird Waltraud Ess allerdings nicht mehr erleben. Denn als sie an diesem Abend – wahrscheinlich kurz nach Mitternacht – nach Hause kommt, muss sie gleich darauf von einem oder zwei Tätern niedergeschlagen worden sein. Sie wurde mit Klebeband am ganzen Körper gefesselt, die Atmung war darunter weder durch Nase noch Mund möglich. Die Tat-Rekonstruktion legt die Vermutung nahe, dass das Klebeband einen qualvollen Erstickungstod herbeiführte. Doch der Grausamkeit nicht genug, man hängte sie auch noch mit einem Elektrokabel am Türgriff auf.
Dieser Mord, der erst am Donnerstagmorgen entdeckt wurde, versetzte ganz Bad Neustadt in Fassungslosigkeit, das Rätselraten über die Motive begann nicht nur bei der Kriminalpolizei. Der Verdacht kam auf, es könnte eine Autoschieber-Bande gewesen sein, die sich anschließend unerkannt Richtung Osteuropa abgesetzt habe.
Die Freundin hingegen glaubt, dass es jemand aus dem regionalen Umfeld gewesen sein muss, vielleicht ein abgewiesener Verehrer, den blinder Hass beseelte. Denn allzu merkwürdig erscheint es, dass der Täter wusste, dass Waltraud Ess nach ihrem Urlaub schon zurück war und genau an diesem Abend erst später heimkehren würde. Ein Einbruch, bei dem sie dann gestört hätte, scheint auch unwahrscheinlich zu sein bei der Intensität, mit der gegen das Opfer vorgegangen wurde. Hinzu kommt, dass außer 3500 DM aus der Urlaubskasse keine Wertgegenstände fehlten, der Schmuck nicht angetastet wurde.
Die Ermittlungen der Kriminalpolizei gingen in alle Richtungen – ergebnislos. Nach fünf Jahren schien sich eine heiße Spur aufzutun, ein anderer Klebeband-Mord führte zu einem Inhaftierten, aber nicht zum Licht im Dunkel des Mordfalls Ess.
Noch heute rätselt die Freundin: „Die Waltraud war doch kräftig, die hat sich mit Sicherheit gewehrt. Da müssen doch irgendwo noch DNA-Spuren sein.“ Diese Hoffnung muss Leitender Oberstaatsanwalt Rainer Vogt in Schweinfurt leider zerschlagen. „Da gibt es heute kein Material mehr.“
Aber Vogt, der schon damals beim Mord direkt zuständig war und es heute zufällig wieder ist, gibt klar zu verstehen, dass er diesen schlimmen Fall eigentlich nicht gern mit in die Pensionierung nehmen möchte. „Die Akte ist noch aufgeschlagen. Wenn sich irgendwo etwas auftut, werden wir dem gemeinsam mit der Kriminalpolizei sofort nachgehen. Denkbar wäre immerhin, dass sich in der Kriminaltechnik noch einmal so ein Quantensprung wie mit der DNA-Analyse ergibt und sich daraus bisher ungeahnte Schlussfolgerungen ziehen lassen.“
Die mysteriösen Umstände dieser Tat sind der Grund dafür, dass keine größer angelegte Fernsehfahndung erfolgte und beispielsweise die Sendung „XY ungelöst“ nie einen Beitrag gebracht hat. „Es gibt einfach zu wenig Ansatzpunkte, nach denen die Bevölkerung gefragt werden könnte“, lautet dazu die Begründung des Leitenden Oberstaatsanwalts. Entsprechend verlief die Darstellung in der Sat 1-Fahndungsakte ohne Resonanz.
„Mord verjährt nicht, und die Akte Ess ist auch noch nicht im Keller verstaubt“, unterstreicht Vogt nachdrücklich, dass dieses Geschehen gegenwärtig geblieben ist. Nicht nur bei den Strafverfolgungsbehörden, sondern auch im Bad Neustädter Bewusstsein – die drei Kinder von Waltraud Ess leben nicht mehr hier – und natürlich an ihrem Dienstagsstammtisch, der sich nach 15 Jahren immer noch regelmäßig trifft und die Hoffnung nicht aufgegeben hat, dass dieser Mord eines Tages doch noch aufgeklärt werden kann.