Welch Wunder! Man geht, nachdem man sich durch die Nacht- und Nebelwelt Londons im Jahr 1886 hat treiben lasssen, mit einer aufgefrischten Einsicht aus dem Theater: Das Böse siedelt nicht nur in den Anderen, sondern zuallererst in einem selbst. Premiere am Meininger Staatstheater: Das amerikanisch-britische Erfolgsmusical "Jekyll & Hyde" von Frank Wildhorn (Musik) und Leslie Bricusse (Text) nach R.L. Stevensons gleichnamiger Novelle. Inszeniert und choreografiert hat es Cusch Jung ("Der Graf von Monte Christo"), der zudem in die Rolle des Freundes des tragischen Helden Dr. Jekyll schlüpft.
Man geht nach zweidreiviertel Stunden Horror tatsächlich mental ausgeglichen aus dem Haus: Ein musikalisches Spektakel zwischen High Society, Klerus, Proletariat und Bordell, atemberaubend choreografiert und ausgeleuchtet, in von Karin Fritz geschickt in den Raum gestellten Andeutungen zeitgemäßer Kulissen und in historischen Kostümen von Sven Bindseil – vom Edelstoff der Reichen bis zum grauschwarz gewandeten Volk.
Mit einem imposanten Chor unter Leitung von Roman David Rothenaicher. Mit einer souveränen Hofkapelle, dirigiert vom 1. Kapellmeister Kens Lui. Mit gut disponierten Sängern und Sängerinnen um die hervorragenden Gaststars Florian Minnerop als Jekyll/Hyde (alternierend mit Benjamin Sommerfeld), Anna Langner als Hure Lucy und die original Meininger Mezzosopranistin Sara-Maria Saalmann als Jekylls Verlobte Lisa (alternierend mit Monika Reinhard).
Handwerklich makellos
Man geht also aus dem Haus und denkt "Donnerwetter, was die da in Bewegung gesetzt haben, mit Licht, Feuer, Blitz und Nebelschwaden ohne Ende!". So, wie es sich für ein gefühlsgeladenes Musical eben gehört. Handwerklich makellos, sängerisch, mimisch, orchestral, bühnenästhetisch und dramaturgisch aus einem Guss.
Man denkt das, obwohl sich nach ungezählten Songs im Ohr der Wurm weigert, nicht einmal ein einziges Liedchen zu trällern – eines, das einem nicht mehr aus dem Sinn geht, ob man will oder nicht. Man trauert auch nicht der Tatsache nach, dass man, trotz Mikroport-Verstärkung, erstaunlich wenig von den Songtexten versteht.
Hätte man die ins Deutsche übertragenen Sätze, vor allem in den gewaltigen Volksszenen, allesamt klar und deutlich wahrgenommen, wären einem die eigenen poetisch gestimmten neuronalen Netzwerke wahrscheinlich aus den Fugen geraten. So viel Schwulst, Pathos, Küchenpsychologie und übers Knie gebrochene Reime, dass man viele Verszeilen selbst hätte zu Ende führen können.
Reim dich oder ich fress sich
Am haarsträubendsten kommt die Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Manier im Song "Fassade" zum Ausdruck, im Wechselgesang von Solisten und Volk: "Schmier’ ins Haar dir Pomad’! /Bist am richtigen Pfad. / Und ich sag dir: Dann gehörst du zum Staat. / Weg vom Proletariat! / Denn man liebt, was man hat! / Sei’s auch nur die Fassad’! / Hinterschau’ die Fassad’!"
Natürlich sind die Folgen für die mentale Gesundheit des Publikums durch den Genuss dieser Klischees nicht annähernd so tragisch wie die Folgen der Einnahme des selbstgemischten Elixiers durch den jungen Wissenschaftler, um "das Böse" in ihm zu vernichten. Immerhin wird Jekylls abgespaltetes Böse als Hyde zum Serienmörder, dem schließlich auch Lucy zum Opfer fällt.
Dass die Auslöschung der dunklen Seiten des Ichs nicht gelingt, gibt ja seit Jahrhunderten immer wieder genügend Stoff für Horror, der die Seele mit Wonne gruselig erregt. Deshalb sollte man sich nicht allzu viel Gedanken um den tieferen Sinn einer solchen Geschichte machen. Besser, man ergreift die Hand der Nachbarin, gibt sich dem Spektakel hin, staunt nur noch über Florian Minnerops Verwandlungskunst und die kongenialen Lichtwechsel - bis die letzten Standing Ovations verklungen sind.
Vorstellungen im Großen Haus: 14., 22. und 31. Dezember, 18. Januar, 15. Februar, 30. März., 17. und 25. April sowie 21. Juni; Kartentelefon (03693) 451 222, www.staatstheater-meiningen.de



