„Betet für uns und gedenket unser, erzählet es euren Kindern wieder, wie wir zu Tode gepeinigt wurden“, schrieb Gretel Klein aus Bad Neustadt an ihre Kinder, knapp einen Monat bevor sie mit dem größten mainfränkischen Transport nach Kasniczyn/Izbica in der Region Lublin deportiert wurde.
850 Personen wurden an jenem 22. April 1942 von Würzburg aus deportiert. In Izbica ist Gretel Klein genauso verschollen wie ihr Mann Hugo Klein und alle 56 Bad Neustädter Juden, die das Mahnmal in der Bauerngasse nennt. Drei davon waren 66 Jahre, ein Kind noch keine zehn Monate alt.
Bewegender Vortrag
Es war ein bewegender Vortrag, den der Historiker und Pädagoge Dr. Elmar Schwinger im gut besetzten Bildhäuser Hof auf Einladung der Volkshochschule hielt. In jahrelanger, mühevoller Arbeit und Quellenstudium, unter anderem in Warschau, Lublin und New York, hat er 2009 das Buch „Von Kitzingen nach Izbica“ veröffentlicht. Darin erzählt er vor allem die Geschichte der Kitzinger Juden. Das 670 Seiten starke Buch enthält aber auch viele Hinweise und Quellen zur Geschichte der Bad Neustädter Juden oder anderer jüdischer Gemeinden in der Umgebung.
Izbica war ein „Transitghetto“, in dem die Deportierten unter schrecklichen Bedingungen lebten. Von dort ging es in die Vernichtungslager Belzec, Sobibor oder Auschwitz-Birkenau. „Man weiß nicht, wo die Bad Neustädter Juden geendet sind“, sagte Schwinger. Viele starben vermutlich schon in Izbica.
Immer wieder ließ Elmar Schwinger den Zuhörern Zeit, die Informationen und Bilder auf sich wirken zu lassen. Oft unterbrach er den Vortrag, um zu sagen: „Hier können Sie einzelne Gesichter sehen.“ Oder: „Schauen Sie sich das Handgepäck der Deportierten an, dieses ärmliche Gepäck der angeblich wohlhabenden Leute.“ Der Transport von Würzburg nach Izbica dauerte drei bis vier Tage. Die Menschen wussten nicht, dass sie in ihren Tod fuhren, aber sie ahnten es – wie der Abschiedsbrief von Gretel und Hugo Klein belegt.
Getrieben durch die vielfältigen Schikanen der Vorkriegszeit, durch den Schrecken der Pogrome, versuchten viele jüdische Mitbürger auszuwandern. Aber so einfach war das nicht. Unter den im April 1942 aus Bad Neustadt Deportierten fanden sich nicht die Jahrgänge, die hatten auswandern können, sondern Kinder und Menschen über 35. Da Izbica offiziell als Arbeitslager deklariert war, wurden die Greise und Gebrechlichen später nach Theresienstadt deportiert. Sie endeten, sofern sie den Transport überlebten, in jenem Lager, mit dem die Nazi-Propaganda die ganze Welt getäuscht hatte, indem sie Delegationen des Roten Kreuzes durch ein „Potemkinsches Dorf“ führte. „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“, hieß der Propagandafilm über das „Altersheim Theresienstadt“.
Wie hat sich die Bevölkerung Bad Neustadts verhalten? Auch da gibt es keine einfachen Antworten. Bei der Versteigerung des Eigentums der aus Bad Neustadt Deportierten soll laut Zeitzeugenberichten eine Atmosphäre wie beim Sommerschlussverkauf geherrscht haben. Ein Reingewinn von 20 376,96 Mark wurde erzielt. Es gab Eiferer wie Kreisleiter Ingebrand, der die Fotos vom Abtransport der Juden im Schaukasten der „Mainfränkischen Zeitung“ auf dem Marktplatz ausstellen ließ. Auch muss jemand die Kinder aufgehetzt haben, die dem Zug der Deportierten johlend und steinewerfend zum Bahnhof folgte. Und doch gibt es andere Beispiele, wie das einer Frau, die ein jüdisches Hausmädchen versteckt hielt, und deren Name in Jad Vaschem in Jerusalem aufgeführt ist. Schwinger hob auch die positive Rolle des damaligen Landrats Conrad Stümmer hervor.
Elmar Schwinger stellte die Frage nach Verantwortung und Schuld. „Wie konntet ihr das zulassen?“ Er beschreibt es so: Seit Machtantritt Hitlers veränderte sich die politische Landschaft. Viele Menschen waren geblendet von der neuen Macht. Ein Beispiel aus seinem Buch: „Als am 30. September 1938 eine kleine Gruppe verbrecherischer Antisemiten in Mellrichstadt in die Synagoge einbrach und ihr Zerstörungswerk begann, sammelte sich binnen kurzem eine aus mehreren hundert Personen bestehende Menschenmenge an, von der sich viele an den Verwüstungen beteiligten.“
Die Masse blieb bei der Deportation passiv. Es gab einzelne kritische Stimmen. Der Krieg fegte dann die letzten Tabus hinweg. Die eigenen Sorgen überwältigten die Menschen. Die Angst um die eigene Familie und die Familienangehörigen an der Front erstickte das womöglich vorhandene Mitleid mit den jüdischen Nachbarn.
Walter Klein, der den Holocaust überlebte, weil er und seine vier Geschwister 1939 mit einem in Frankfurt am Main zusammengestellten Kindertransport nach England hatten auswandern können, kam zur Enthüllung des Mahnmals nach Bad Neustadt. Er zeigte Trauer um seine Eltern, aber keinen Groll. Als Bad Neustädter Schüler ihm zum Geburtstag gratulierten, sagte er: „Ich war ein unerwünschtes Kind in Bad Neustadt. Und jetzt singen die Schüler für mich.“