Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Rhön-Grabfeld
Icon Pfeil nach unten
Mellrichstadt
Icon Pfeil nach unten

Meiningen: Und dann wird alles ganz anders …

Meiningen

Und dann wird alles ganz anders …

    • |
    • |
    Ja, wer soll denn nun Puntilas Tochter heiraten, der langweilige Attaché oder der attraktive Matti (von links: Gunnar Blume, Pauline Gloger, Paul Maximilian Schulze, Vivian Frey)?
    Ja, wer soll denn nun Puntilas Tochter heiraten, der langweilige Attaché oder der attraktive Matti (von links: Gunnar Blume, Pauline Gloger, Paul Maximilian Schulze, Vivian Frey)? Foto: Christina Iberl

    Andreas Kriegenburgs zweite Inszenierung am Meininger Staatstheater: Brechts etwas anderes Volksstück "Herr Puntila und sein Knecht Matti", entstanden 1940 im finnischen Exil. Man rechnet, energetisch aufgeladen, mit drei Stunden Spielzeit. Und dann wird alles ganz anders als man denkt – und das Theater hat ein neues Meisterwerk, über das man noch lange sprechen wird.

    Nüchtern betrachtet ist besoffen besser: Der Knecht schleppt seinen Herrn nach Hause (Vivian Frey und Paul Maximilian Schulze).
    Nüchtern betrachtet ist besoffen besser: Der Knecht schleppt seinen Herrn nach Hause (Vivian Frey und Paul Maximilian Schulze). Foto: Christina Iberl

    Doch erst einmal wabern Schwaden nebulöser Erinnerungen durchs Gehirn: Brecht in Meiningen – waren das nicht vor allem Stücke voller Gelehrsamkeit und Moralität? Standen die Worte nicht stramm auf den Zungen der Schauspieler bei Manfred Wekwerths Inszenierung des "Guten Menschen von Sezuan?" Also, aufrecht gesessen und erkenntnisbereit. Unterhaltung passé!

    Befreiendes Gelächter im Saal

    Unterhaltung passé? Von wegen! Drei clowneske Figuren stehen auf der Vorbühne vor wehendem weißen Vorhang: Der stockbesoffene Gutsbesitzer Puntila, ein Kellner und Matti, der entnervte neue Chauffeur, der seinen Herrn nach Hause bringen soll. Da kommt sogar das Publikum in der ersten Reihe nicht ungeschoren davon. Befindet man sich etwa in der Vorstellung einer Commedia-dell'-arte-Truppe, die mit einem Gütezertifikat aus Charlie Chaplins Clownsschule über die Bretterbühnen des Landes zieht?

    Was, keine Hochzeit? Diener Matti und drei enttäuschte finnische Maiden (von links: Anja Lenßen, Mia Antonia Dressler, Paul Maximilian Schulze, Noemi Clerk).
    Was, keine Hochzeit? Diener Matti und drei enttäuschte finnische Maiden (von links: Anja Lenßen, Mia Antonia Dressler, Paul Maximilian Schulze, Noemi Clerk). Foto: Christina Iberl

    Befreiendes Gelächter im Saal, schon bevor der Vorhang fällt und einer bühnenhohen rohen Sperrholzwand Platz macht. Vor der torkelt Puntila den Gehsteig entlang, nicht ohne im Vorüberschwanken gleich drei holden Maiden nacheinander ein Verlobungsversprechen zum geöffneten Fenster hochzustammeln. Und schon wieder fällt die Wand und gibt den Blick frei auf einen ebenfalls sperrholzbewandeten leeren Raum, in dem weitere clownesk geschminkte Figuren herumlungern: Neben den Heimkehrern Puntila und Matti (Vivian Frey und Paul Maximilian Schulze), Puntilas Tochter Eva (Pauline Gloger), der heiratsgierige Attaché (Gunnar Blume) und Köchin Laina (Anja Lenßen).

    Sieht das nach einer glückliche Ehe aus? Eva und Matti bei der missglückten Hochzeitsfeier (Pauline Gloger und Paul Maximilian Schulze).
    Sieht das nach einer glückliche Ehe aus? Eva und Matti bei der missglückten Hochzeitsfeier (Pauline Gloger und Paul Maximilian Schulze). Foto: Christina Iberl

    Brecht-Maßstäbe in Frage gestellt

    Spätestens jetzt ahnt man, dass Kriegenburgs Inszenierung - zu der er selbst das Bühnenbild schuf und seine Kostümbildnerin Andrea Schraad eine farbenprächtige Clownsgarderobe -, spätestens jetzt ahnt man, dass die Inszenierung viele Brecht-Maßstäbe in Frage stellt, die in den Köpfen der Zuschauer aus Tradition und Gewohnheit herumgeistern.

    Kriegenburg befreit die Figuren aus dem Korsett des Realismus, legt dabei ihre Verfassung ohne Umschweife offen und behält den originalen Lauf der Handlung fest im Auge. Der Regisseur gibt seinem Ensemble gleichzeitig Narrenfreiheit, die Figuren mimisch und sprachlich zu überreizen, ihre Eigenschaften lustvoll auszuspielen und bei Bedarf sogar die Freiheit, aus der Rolle zu fallen und sich ans Publikum zu wenden.

    Lustvoll entfesselt gespielt

    Herr Puntila fasst einen Entschluss: Der Alkohol muss vernichtet werden, um die Ordnung wiederherzustellen (von links: Paul Maximilian Schulze, Vivian Frey, Anja Lenßen).
    Herr Puntila fasst einen Entschluss: Der Alkohol muss vernichtet werden, um die Ordnung wiederherzustellen (von links: Paul Maximilian Schulze, Vivian Frey, Anja Lenßen). Foto: Christina Iberl

    Die Inszenierung wird zu einem Ereignis, über das man noch lange sprechen wird. Zum einen, weil das Ensemble um Vivian Frey und Paul Maximilian Schulze auf eine erhellend kluge Art lustvoll entfesselt spielt wie schon lange nicht mehr. Zum anderen deshalb, weil der Grundkonflikt präsent bleibt, trotz des zeitlosen Spielraums und des slapstickhaften Spiels.

    Puntilas Charakter ist gespalten. Stockbesoffen zeigen sich wahrhaftige Züge von Menschlichkeit. Im nüchternen Zustand jedoch ist er ganz berechnender, gnadenloser Kapitalist. Damit steht er auf dem Boden der Tatsachen des mächtigen Kapitals, das Moral bestenfalls als eine Tugend für Verlierer belächelt. Das kommt einem verdammt gegenwärtig vor, egal, ob ein Techmilliardär im Suff Tränen des Mitleids vergießt oder ein Oligarch den Mann auf der Straße umarmt.

    Ovationen des Publikums

    Matti, der aufrechte Proletarier in Brechts Stück, wird hin- und hergerissen zwischen Annäherung und Ablehnung und entscheidet sich nach haarsträubenden Eskapaden Puntilas, den Hof zu verlassen und klassenbewusst zu leben. So gut. So brechtisch. Klassenantagonismus ausgeformt. Die Mattis dieser Welt gehen ihren Weg. "Den guten Herren finden sie geschwind, / wenn sie erst ihre eigenen Herren sind."

    "Stopp!", möchte man an dieser Stelle zwischenrufen, und das bleibt der einzige Widerspruch an diesem denkwürdigen Abend. "Stopp. Die Geschichte lehrt, dass Zweifel an der Grundgütigkeit des Menschen angebracht sind." Weil die Hoffnung zwar stirbt, aber immerhin zuletzt, lässt Andreas Kriegenburg am Ende die gute Laina auf dem Akkordeon "was Tröstliches" anstimmen, das alte Partisanenkampflied "Bella ciao". Und so zieht Matti von dannen, vielleicht in eine bessere Welt. Zumindest Richtung Sonnenuntergang. – Ovationen des Publikums.

    Nächste Vorstellungen: 22. Februar, 26. März, 6., 13. und 27. April; Karten: Tel.: (03693) 451222. Infos: www.staatstheater-meiningen.de

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden