Zum Samstagabendprogramm gehört schon seit je her die Ziehung der Lottozahlen. Wer mit von der Partie ist und einen Lottoschein ausgefüllt hat, erwartet mit Spannung sechs Zahlen, die mit einem Schlag alle Wünsche erfüllen und somit das Leben total verändern könnten, sofern es die "Richtigen" sind.
Den Traum vom Reichsein, endlich auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, diesen Traum haben schon sehr viele Menschen geträumt und für manche wurde er Wirklichkeit. Doch nicht immer brachte ein Millionengewinn das ersehnte Glück. Im Rausch des unerwarteten Geldregens und in Anbetracht der langersehnten Wünsche, die man sich nun endlich erfüllen kann, stellt sich ein unbeschreibliches Glücksgefühl ein, das aber nicht selten nur vorübergehend ist. Was ein vermeintlicher Lottogewinn an Emotionen auslösen kann, erlebte ich als kleines Mädchen.
Wir wohnten damals in einem alten Mietshaus in der Weingasse 3. Ein enges, dunkles Treppenhaus führte in den ersten Stock zu unserer kleinen Wohnung. Auf derselben Etage wohnten ganz liebe Nachbarn: Werner, Luise und drei Kinder, Toni, Evelyn und Ella gehörten zu ihnen. Das Leben in diesem Haus erforderte Rücksicht und Disziplin. Man organisierte sich und nahm vieles mit einem "Augenzwinkern" hin. Die Wände hatten Ohren, der Alltag bescherte die unterschiedlichsten Stimmungen. So drangen Kinderlachen, Schreikrämpfe, Wutanfälle und Moralpredigten durch die hellhörigen Wände. Aber auch froher Gesang, Lachen und ab und zu spielte Werner auf seinem Schifferklavier ein Lied, das auch uns zum Singen anregte.
Ein Geheimnis blieben selten ein solches. Einer im Haus hatte bestimmt etwas vernommen und bastelte daraus eine Story. Es kam zu Verwechslungen, die zu Missverständnissen führten – man ertrug sich stillschweigend. Im Geheimen träumte jeder von einem Häuschen im Grünen. Was wäre wenn? Aus diesem Gedanken heraus: "wenn ich einmal reich wäre", versuchte man es mit Lottospielen. Auch mein Vater und unser Nachbar Werner spielten zum Leidwesen ihrer Frauen regelmäßig Lotto. Spätestens am Freitag, wenn Mutter den Lottoschein abgeben sollte, kam es zum Wortwechsel. "Das ist rausgeschmissenes Geld", ereiferte sie sich: "Wo bleibt denn der große Gewinn?"
Irgendwann wird es schon klappen
Aber Papa ließ sich nicht beirren. "Wirst schon sehen, einmal klappt es und dann…?" Er lächelte und sein Blick war, als schaue er in eine andere Welt. Mama schüttelte den Kopf, nahm den Lottoschein und tat, was er ihr angeschafft hatte. Nun ja, solange es nicht vom Haushaltsgeld abging, sollte es recht sein. Am Samstagabend saß Papa gespannt vor dem Radio. Alles musste still sein, denn es kam die Ziehung der Lottozahlen. Eins, zwei Richtige und dann nur Kopfschütteln. Nichts war´s mit einem Gewinn. Papa ließ seinen Lottoschein verschwinden und Kommentare waren überflüssig. Doch plötzlich drang aus der Nachbarwohnung ein Jubelgeschrei.
Werner lachte schallend, er konnte sich gar nicht beruhigen und wir konnten hören, dass sich gerade nebenan etwas ganz Außergewöhnliches ereignete. Was war da geschehen? Uns fehlten die Worte. Kurz darauf klingelte es bei uns. Werner stand mit seinem Lottozettel in der Hand vor unserer Türe. "Michel, ich habe gewonnen", sprudelte es aus ihm heraus. "Sechs Richtige, stell dir vor, sechs Richtige! Ich werd´ verrückt!"
Papa wurde ganz blass vor Schreck und nun steckten die Männer die Köpfe zusammen und kontrollierten die Lottozahlen. Tatsächlich, es waren sechs richtige Zahlen in einem Kästchen. Werner baute im Geiste schon ein Haus mit allem drum und dran und rechnete aus, wie viel der Gewinn bringen wird. Wir alle waren angesteckt von Werners Glücksgefühlen und waren sehr gespannt, was sich als nächstes ereignen würde. Sicher war, die Nachbarn würden ausziehen und das bedauerte ich in diesem Moment am meisten. Im Rausch der Gefühle machte sich Werner wieder zurück in seine Wohnung. Er wollte mit seiner Luise anstoßen auf dieses besondere Ereignis.
Wir jedenfalls hatten für diesen Abend genügend Gesprächsstoff. In meiner kindlichen Phantasie stellte ich mir vor, wie sich unsere Nachbarn verwandelten in ganz vornehme Leute und ich baute Luftschlösser. Das alles machte mich traurig. Mir gefiel unsere kleine Welt, so wie sie war. "Wenn so Glück aussieht...", dachte ich mir und wickelte mich in mein Badetuch, in das ich mich nach dem Baden gekuschelt hatte und genoss die Wärme des Ofens. In meine Träumerei drangen plötzlich Stimmen, die gar nicht mehr so freundlich klangen.
Das Glück spricht oft eine andere Sprache
Es hatte etwas Bedrohliches an sich. Ein Streit bahnte sich bei unseren Nachbarn an. Die Stimmen wurden immer lauter, die Kinder heulten und Luise schrie hysterisch: "Ich halte das nicht aus!" Ich verstand das alles nicht. Sie müssten doch glücklich sein? Sie waren doch jetzt reich. Da hörte ich Werner sagen – es klang gefährlich, seine Stimme zitterte: "Sag das noch einmal, sag, dass das nicht wahr ist!" Darauf schluchzte Luise furchtsam, ja weinerlich: "Wir haben nichts gewonnen, ich habe den Schein nicht abgegeben."
Ein Traum war geplatzt, wie eine wunderbare Seifenblase, einfach geplatzt. So nahe waren sie dran an einem neuen Leben in Luxus. Das Küchenfenster flog auf, ein paar Gegenstände flogen hinaus in den Hof und dann war Stille. Neugierig erschienen Köpfe hinter den Gardienen und verschwanden wieder. Einige Zeit später hörten wir Werner im Hof Holz hacken. Das war ungewöhnlich, denn wer hackt schon am Samstagabend Holz? Papa sagte: "Werner muss Dampf ablassen. Jeder tut es auf eine andere Weise." Dann zog wieder Ruhe in die Weingasse ein. Der Traum vom reich sein blieb ein Traum und träumen darf man doch.
Wenn ich einmal reich wär… Noch oft habe ich darüber nachgedacht. Was wäre gewesen, wenn sich dieser Traum erfüllt hätte? Werner und Luise waren auch ohne den Lottogewinn ein fröhliches Paar. Glück spricht oft eine ganz andere Sprache, man muss sie nur verstehen lernen.