Am 9. November vor 25 Jahren fielen die Mauer und der Eiserne Vorhang. Es war ein Donnerstag, als Günther Schabowskis entscheidender Satz fiel.
Zwei Tage später – am Sonntag – gab es das Begrüßungsgeld, waren die grenznahen Städte voller DDR-Bürger. Unter ihnen waren damals in Bad Königshofen auch Helga und Willi Fischer aus Schmalkalden, die auf westlichem Territorium Marianne und Rudi Dümpert um den Hals fielen.
Es war ein sonniger Sonntagmorgen nach der Kirche, als die beiden am Hochgericht mit dem Fahrrad ankamen. Kennen gelernt hatte man sich knapp allerdings schon knapp drei Jahre vorher am 12. Januar 1986 beim Biathlon-Weltcup in Oberhof. Die vier Biathlonfans Rudi Dümpert (Bad Königshofen), Hans Witho von Ponickau (Trappstadt), Egbert Ankenbrand (Herbstadt) und Adolf Stumpf (Kleineibstadt) waren wegen der Schikanen am Grenzübergang Eußenhausen zu spät zur Staffel gekommen, die um zehn gestartet worden war.
Das Stadion am Grenzadler war übervoll, so dass es schwierig war, auf der Stehtribüne etwas zu sehen. Da stieg Rudi über einen Jägerzaun und stellte sich auf einen Schneehaufen: Beste Sicht hinunter ins Stadion, aber die zweiten Läufer der Staffel waren gerade im Wald unterwegs. Eine Videowand gab es noch nicht.
Mit Torte und Kerzenleuchter
„Also, mach mer erst mal Brotzeit“, beschloss Rudi im Selbstgespräch, während neben ihm zuerst eine Frau, dann ein Mann auf dem Schneehaufen Platz genommen hatten. „Sind Sie etwa aus Bayern?“, fragte die Frau und man kam ins Gespräch, an dessen Ende eine Einladung für die vier Grabfelder zum Kaffeetrinken in Schmalkalden stand. Das Ehepaar hatte dem Wessi erzählt, dass sie einen 15-jährigen Sohn hätten, der als Schüler der Kinder- und Jugendsportschulen für den ASK Oberhof Biathlon betreibe, dass sie eine ehemalige Leichtathletin und EM-Teilnehmerin und er Radrennfahrer gewesen sei.
Sympathisch war man sich auf Anhieb, neugierig nicht minder. Es blieben vier Stunden Zeit nach dem Wettkampf bis zum Kaffeekränzchen bei wildfremden Menschen. Gelegenheit, das Zwangsumtauschgeld im Hotel Oberhofer Hof auszugeben: Wildschweinbraten für zwei Mark fünf, ein Bier für 30 Pfennige. Schmalkalden fand man leicht, bis zur Renthofstraße 8 war es aber eine längere Such-Rallye. Dann hatte der Mann das vorbeifahrende Westauto entdeckt, das Hoftor geöffnet, den Wagen in den Schuppen gelotst und das Hoftor wieder geschlossen.
Es sei nicht ganz ungefährlich für die Familie, sagte er etwas aufgeregt, später etwas ausführlicher. Er sei in leitender Stellung beim Kranbau-Kombinat, sie Sportlehrerin und der Sohn in der KJS. Westkontakte könnten alles kaputt machen, „besonders dem Jungen die Karriere.“ Im Wohnzimmer war es warm und gemütlich eingerichtet, zwei Tortenhälften und ein Kerzenleuchter auf dem weiß gedeckten Tisch. Der 17-jährigen Tochter war der Westbesuch nicht eben willkommen. Sie musste seinetwegen die ARD-Jugend-Sendung „Formel eins“ abschalten und verließ höflich, aber ziemlich ungehalten das Zimmer. Der Sohn war in Bulgarien im Trainingslager.
Der Plausch dauerte gute vier Stunden. Als wären sich Menschen von einem anderen Stern begegnet, so tastete man sich zunächst ab. Dann öffneten sich die Herzen und lösten sich die Zungen. Irgendwie fühlten sich die vier Grabfelder wie im Film: Ungeheuer spannend, ein bisschen ungeheuerlich, fast etwas konspirativ. Für die zwei Thüringer auch. Bei ihnen kam aber mehr dazu: Die Angst, alles aufs Spiel gesetzt zu haben, nur für ein Gespräch mit Leuten aus dem Westen. Zwischen acht und neun machten sich die Wessis dann auf den Heimweg. Die Eindrücke waren überwältigend und nachhaltig.
Zum Greifen nahe
Rudi hielt per Post, etwa zwei, drei Briefe pro Jahr, die Freundschaft am Leben. Nur eines wunderte ihn. Absender außen auf dem DDR-Brief war nicht Willi, sondern Alfred. Drinnen grüßten Helga und Willi. Also adressierte er seine Briefe auch an Alfred und sprach drinnen Helga und Willi an. Beim ersten der zwei Besuche im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs von Rudi und Hans, 1986 und 1988, löste Willi das Rätsel. Alfred war sein Vater, wohnte im selben Haus, Rentner. Er durfte Westpost bekommen.
Die Besuche gingen natürlich einseitig nur Richtung Osten. Ein mal ging es zur DDR-Skisprung-Meisterschaft in Brotterode, ein anders Mal Sightseeing rund um den Rennsteig. Da bekamen die Fremden zum ersten Mal Sven, den jungen Biathleten, zu sehen: Ein Handtuch von Sportler, Westkontakt streng untersagt. Warum? „Du könntest ihn Dinge über die Armee oder Trainingsmethoden fragen.“ Als man gemeinsam an der Mauerbrüstung oben auf Schloss Wilhelmsburg Richtung Westen in die Abendsonne schaut, wird Willi wehmütig. Er benennt alle Rhöner Berge auf bayerischer und hessischer Seite. „Zum Greifen nah und doch unerreichbar“, seufzt er mit sehnsüchtiger Wehmut und wehmütiger Sehnsucht.
Zwei Jahre später, am 12. November 1989, erreicht er sie und Bad Königshofen doch: Erst mit dem Fahrrad, dann mit dem Wartburg, später mit irgendeinem Gebrauchten. Einen Neuwagen hat er sich bis heute nicht gekauft, obwohl er es könnte.
Die bösen Kapitalisten
Das Kranbau-Kombinat wurde abgewickelt, Willi wurde Verkaufsleiter bei einem Fruchtschnitten-Hersteller in Floh-Seligenthal, später Manager seines Sohns und Schwiegersohns. Beide, Sven Fischer und Frank Luck, wurden mehrmalige Weltmeister und Olympiasieger im Biathlon. Frank heiratete die „Formel-eins-Tochter“ Andrea und Schwager Sven wurde sein Team- und Staffelkollege.
Franks erster Besuch in Bad Königshofen war am 19. November 1989. Im März davor war er Doppelweltmeister geworden. Seinen Trabi betankte er vor der Rückfahrt aus seinem blechernen Benzinkanister. Sven, inzwischen 17, betrat BRD-Gebiet erstmals Anfang Dezember 89, besuchte mit seinen Eltern, Hans, Marianne und Rudi den Nürnberger Christkindlesmarkt und stürzte sich am Abend mit deren Tochter ins Königshöfer Diskoleben, während beide Elternpaare am Kaminfeuer bis in die Morgenstunden Erlebnisse von vor der Wende austauschten. „Mutti“, fragte Sven früh um drei, als er, der junge, hoffnungsvolle DDR-Sportler, zum ersten Mal in seinem Leben im „feindlichen Ausland“ ins Bett fiel, „wo sind sie denn, die bösen Kapitalisten?“
Seit jenem ersten Besuch 1989 haben sich die beiden Familien schon oft getroffen, bei Freud- und Leid-Familienfeiern und sonstigen Anlässen. Auch wenn diese weniger geworden sind: Die Tradition halten sie ebenso hoch und treu wie die Freundschaft, indem sie sich seit 25 Jahren, ohne Unterbrechung, an jedem zweiten Sonntag im November treffen. Und natürlich ganz ohne Grenzschikanen, aber mit Kaffee und Kuchen und Kerzen auf weiß gedecktem Tisch. Und die Gespräche haben immer noch Inhalte wie damals am Kaminfeuer.