Auf und unter Alis Schreibtisch herrscht das pure Chaos. Kim Graf hatte schon die Hoffnung aufgegeben, dass Ali jemals aufräumt. „Als ich aber nach den Ferien das Klassenzimmer betrat, begrüßte mich Ali mit einem stolzen Lächeln“, schreibt Kim und sieht den Grund für Alis Freude sofort: Der Schreibtisch ist aufgeräumt.
Ali hat auch das Lernen gelernt
Diese kleine Erfolgsstory steht im Beitrag der zehn Rathenau-Gymnasiasten eines P-Seminars, das mit den zwei darin beschriebenen Projekten beim Geschichtswettbewerb der Initiative gegen das Vergessen („Vom Fremdsein und Daheimsein“) den zweiten Preis (300 Euro) gewonnen hat. Es gab zwei erste Preise, dotiert mit je 500 Euro (wir berichteten), weshalb heuer kein dritter Preis vergeben wurde. Das Preisgeld für die drei Sieger spendete wieder die Oskar-Soldmann-Stiftung.
Immer mittwochs standen Rathenau-Abiturienten Körner-Grundschülern bei
Im Schuljahr 2015/2016 hospitieren die zehn Gymnasiasten des Rathenau-Seminars in der Körner-Grundschule. Immer mittwochs, fünfte und sechste Stunde, greifen sie den Kindern zweier vierter Klasse in den Fächern Deutsch und Mathematik unter die Arme. Jeder erhält ein Patenkind mit Migrationshintergrund, das besonders unterstützt werden soll. Wenn ein Text oder eine Mathearbeit partout nicht verstanden wird, geht der Pate mit seinem Schützling auch Mal in einen ruhigen Nebenraum. Darüber hinaus bereiten die Rathenauer Unterricht vor, halten den auch, sie stellen Arbeitsblätter zusammen oder überlegen sich Aufgaben zu den „Tempora“ (Zeiten), um das Verständnis „unserer Patenkinder für die deutsche Sprache zu fördern“.
Die oben beschriebene Kim Graf war die Patin von Ali. Er hatte nicht nur endlich aufgeräumt, sondern auch verstanden, „dass man regelmäßig lernen und üben muss, um gute Noten zu erzielen“, beschreibt Kim Graf ihre offensichtlich erfolgreiche Arbeit mit Ali. Der Leser der Wettbewerbsarbeit erfährt jedenfalls am Ende, dass sich Alis Leistungen in Mathematik „um gleich drei Notenstufen verbessert haben“.
Profitiert haben von den Projekten alle
„Insgesamt sind wir unendlich dankbar für dieses aufregende Seminar“, lautet das Fazit der Rathenau-Abiturienten. Sie wissen, dass sie vielen Kindern mit ihrem Mittwochseinsatz sehr geholfen haben, räumen aber auch ein, dass auch sie, die Abiturienten, „jede Menge dazugelernt haben“. Die mangelhaften Sprachkenntnisse der Kinder, ihr anderer Kulturkreis habe zwar vieles erschwert. „Aber es hat uns Spaß gemacht, mit den Körnerschülern zu arbeiten und zu lernen“, schreiben die Abiturienten. Sie berichten, dass sie selbstständiger geworden seien, im Team zu arbeiten gelernt und sich eben auch sozial engagiert haben.
Zwei der Seminaristen sind Bina Ali und Rrezarta Muriq. Bina stammt aus Afghanistan, Rrezarta aus dem Kosovo. Ihre Lebengeschichten sind Teil zwei der Wettbewerbsarbeit und im wahrsten Wortsinn in sechs Kapiteln gegenübergestellt. Illustriert sind die Kapitel mit vielen Bildern aus dem jeweiligen Lebensabschnitt.
Beide sind 1998 geboren. Wegen des Kriegs im Kosovo gelingt Rrezartas Mutter nach einem gescheiterten Versuch 1998 die Flucht nach Deutschland – ohne Mann, ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse, aber mit der gerade geborenen Rrezarta und zwei älteren Geschwistern. Zwei Monate ist das Quartett unterwegs, für die Mutter ein „traumatisches Erlebnis“.
Beeindruckende Schilderung der Flucht und dem Ankommen in Deutschland
Erste Station ist die Unterkunft Breite Wiese. Freudig seien sie nicht empfangen worden, erinnert Rrezarta. Freude herrscht aber ein Jahr später: Der Vater kommt an. 2001 wird Bruder Besian geboren. Die Eltern bringen die Familie mit Jobs durch. 2008 beziehen die Muriqs eine eigene Wohnung in Schweinfurt. „Das Gefühl eines festen Zuhauses gibt mit viel Halt“, sagt Rrezarta.
Der Krieg zwingt auch Binas Mutter mit ihren drei Kindern zur Flucht aus Kabul. Der Vater war von den Taliban verschleppt worden. 2000 kommen die Mutter, Bina, ihre Schwester Djena, Bruder Sirat und die Oma in Deutschland an, erst Würzburg, dann Unterspiesheim.
In Kapitel zwei wird über beider Kindergartenzeit berichtet, die beide zusammenfassend als sehr schön beschreiben. Bina besucht anfangs den Kindergarten in Unterspiesheim, dann den in Niederwerrn, wohin die Familie 2002 zieht. Gespalten sind demgegenüber die Erfahrungen in der Grundschule, beschrieben in Kapitel drei. Rrezarta bedauert, dass die Lehrkraft „nicht besonders auf die Kinder mit Migrationshintergrund einging“. Anders Bina, die in der Hugo-von-Trimberg-Grundschule in Niederwerrn „nie das Gefühl hatte, ausgegrenzt zu sein“. Marie-Madeleine und Isabella sind bis heute ihre besten Freundinnen.
Das Durchboxen hat sich gelohnt
Kapitel vier schildert den Übertritt ans Rathenau, Kapitel fünf widmet sich der Zeit bis zum Abitur. Rrezarta hat nur anfänglich Schwierigkeiten, ab der 7. Klasse startet sie durch. Das Abi legt sie mit der Note 1,0 ab. Bina kommt von Anfang an klar. Welches Studium ansteht, wissen sie noch nicht.
Kapitel sechs ist „Das Leben heute“ überschrieben. Mit dem Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft für die ganze Familie Muriq erlebt Rrezarta 2015 einen ersten Höhepunkt. Dann das tolle Abitur in diesem Jahr. 2015 hat auch Bina ein „einschneidendes Ereignis“. Dem Vater gelingt die Flucht aus Afghanistan. 14 Jahre hatte sie ihn nicht gesehen.
Rrezarta weiß, dass die Eltern „wirklich alles für uns Kinder geopfert haben“. Sie will sie deshalb immer unterstützen. Bina nennt sich glücklich und dankbar, das sie keine Erfahrungen mit Diskriminierung machen musste.
Bei der Preisverleihung in der vollen Disharmonie Anfang Juli dann diese große Geste von Rrezarta, Bina, Kim und Co.. Das P-Seminar beschließt spontan, das Preisgeld zur Hälfte an den Rathenau-Förderverein und ans Projekt Kinderlachen weiterzureichen, jeweils als Hilfe für sozial schwächer gestellte Kinder.
Der Geschichtswettbewerb 2014 hat die Initiative gegen das Vergessen erstmals einen Geschichtswettbewerb für Schulen in der Region ausgeschrieben. Das Konzept zum Wettbewerb hatte Initiativenmitglied Johanna Bonengel ausgearbeitet. Der erste Wettbewerb hatte das Motto „Die Region Schweinfurt stellt sich der Vergangenheit des 20. Jahrhunderts“. Die Resonanz war enorm. Wie geplant im Zweijahresrhythmus erfolgte 2016 die Ausschreibung für Durchgang zwei mit dem Titel „Vom Fremdsein und Daheimsein“. Anfang Juli war in der Disharmonie die Preisübergabe. Das Ziel, bei jungen Menschen Interesse für die regionale Geschichte in der Stadt und auf dem Land, aber auch für die eigene persönliche Geschichte zu wecken und auch die demokratischen Traditionen der deutschen Geschichte zu reflektieren, ist gelungen. Vor allem die Siegerarbeiten waren bei der Premiere 2014/2015 und jetzt erneut von großer Qualität. Die Oskar-Soldmann-Stiftung unterstützt das Projekt von Anfang ideell – der Vorsitzende des Stiftungsvorstands und Alt-OB Kurt Petzold gehört der Wettbewerbsjury an – und finanziell. Der nächste Wettbewerb – Thema noch offen – wird 2018 ausgeschrieben. hh