Viermal seit Beginn der Corona-Pandemie stand die Anker-Einrichtung der Regierung von Unterfranken in Geldersheim (Lkrs. Schweinfurt) unter Quarantäne. Viermal waren die rund 800 Bewohner des Zentrums für "Ankunft, Entscheidung, Rückführung", kurz AnkER, über mehrere Tage und Wochen komplett von der Außenwelt abgeschottet. Das erste Mal im Frühjahr sogar zwei Monate lang. Das soll es so nicht mehr geben.
"Wir haben massiv gegen die Quarantäne interveniert", sagt Dr. Özlem Anvari, die seit Dezember das medizinische Versorgungsteam des St. Josef-Krankenhauses in der Anker-Einrichtung leitet. Gemeinsam mit ihrem Team und der Anker-Leitung hat sie ein Konzept erarbeitet, damit solche drastischen Maßnahmen nicht mehr erfolgen müssen. Sobald ein Corona-Fall auftaucht, führt die Anker-Verwaltung ein "konsequentes Contact-Tracing" zur Ermittlung aller in Frage kommenden Kontaktpersonen eines Infizierten durch. Alle Betroffenen werden dann separiert und getestet. Parallel dazu nimmt das medizinische Team eine Reihentestung der gesamten Liegenschaft vor. "Grundsätzlich werden neben den Bewohnern alle Beschäftigten mitgetestet, von der Verwaltung über das Reinigungspersonal bis hin zum Sicherheitsdienst", erklärt Johannes Hardenacke, Pressesprecher der Regierung von Unterfranken.

Erst in dieser Woche gab es wieder eine solche Reihentestung, nachdem bei einem Neuzugang vom November vergangenen Jahres eine Covid-19-Infektion entdeckt worden war. Unter den rund 900 Getesteten war nur ein positiver Fall. "Das ist zwar ein großer Aufwand", sagt Yener Yildirim, der stellvertretende Leiter der Anker-Einrichtung. Doch auf diese Weise lässt sich das Infektionsgeschehen eingrenzen und mit einer sogenannten Cluster-Isolierung eine Quarantäne für die gesamte Einrichtung vermeiden. Das ist der ärztlichen Leiterin wichtig. Denn den Bewohnern solle das Wenige, was sie an Freiheiten haben, nicht auch noch genommen werden.
Auch wer das Ärztehaus in der Anker-Einrichtung aufsucht, wird vorab erst einmal getestet. Bei typischen Erkältungssymptomen wird noch ein Schnelltest vorgeschoben, um rasch reagieren zu können. Bislang seien rund 50 Schnelltests gemacht worden, keiner sei positiv gewesen. Nicht zuletzt glaubt die Ärztin, dass aufgrund der Infektionswellen im vergangenen Jahr auch ein gewisses Maß an Herdenimmunität in der Einrichtung vorhanden ist.
An vier Tagen in der Woche ist Sprechstunde
Das Krankenhaus St. Josef unter der Trägerschaft der in Würzburg ansässigen Kongregation der Schwestern des Erlösers ist im Auftrag der Regierung von Unterfranken seit 2015 für die kurative Versorgung aller Bewohner der Anker-Einrichtung Unterfranken verantwortlich. Dr. Anvari arbeitet seit 2015 als Kinderärztin dort. Nach dem Ausscheiden von Dr. Michael Mildner wurde der 52-Jährigen nun die Leitung des medizinischen Versorgungsteams übertragen. Neben der Kinderärztin halten zwei Hausärzte vier Tage in der Woche Sprechstunde. Wegen Corona gibt's Termine nur mit Anmeldung. Für Notfälle wird ein Zeitfenster freigehalten.
Das Team von Dr. Anvari organisiert auch die konsiliarische gynäkologische und psychiatrische Betreuung der Geflüchteten. Neben präventiven, diagnostischen und therapeutischen Leistungen übernimmt das Ärztezentrum zudem Aufgaben des Öffentlichen Gesundheitsdienstes.
"Manche Patienten haben noch nie einen Arzt gesehen."
Kinderärztin Dr. Özlem Anvari
Der Bedarf an ärztlicher Versorgung vor Ort ist vorhanden. Die Bewohner kommen mit den üblichen Beschwerden wie Husten oder grippalen Infekten. Auch Hauterkrankungen wie die durch Milben ausgelöste Krätze sind an der Tagesordnung. Die Flüchtlinge infizieren sich auf ihrem Weg nach Deutschland meist in den Sammellagern, weil sich die Tiere vor allem an Orten tummeln, an denen viele Menschen eng zusammenleben. "Das hat nichts mit der körperlichen Hygiene zu tun", betont Dr. Anvari.

Es gibt auch schwere Krankheitsbilder. "Wir haben Patienten mit Krebs, Diabetes oder Niereninsuffizienz", sagt Dr. Anvari. Das Ärzteteam arbeitet hier mit Spezialisten der Unikliniken Würzburg, Gießen und Erlangen zusammen. Auch Kinder mit schweren Krankheiten leben in der Flüchtlingsunterkunft. Die Kinderärztin hatte bisher drei kleine Leukämie-Patienten und ein Kind mit einem Herzfehler. Aktuell betreut sie einen autistischen Jungen. Die meisten Kinder aber seien gesund, es fehlten lediglich Impfungen oder die hierzulande obligatorischen Vorsorgeuntersuchungen. Kein Wunder. "Manche Patienten haben noch nie einen Arzt gesehen."

Aktuell befinden sich 847 Asylbewerber in der Anker-Einrichtung. Sie kommen schwerpunktmäßig aus Algerien, Armenien, Elfenbeinküste und Somalia sowie aus Nigeria, der Republik Moldau und Syrien. Viele von ihnen sind schwer traumatisiert. Sie finden Hilfe in der von den Erlöserschwestern finanzierten Ambulanz für Seelische Gesundheit, wo geschulte Geflüchtete psychosoziale Beratung für neu angekommene Geflüchtete in deren Muttersprache anbieten. Außerdem sind zwei Psychiaterinnen einmal in der Woche vor Ort. "Der Bedarf ist groß", verweist Dr. Anvari auf die vielen Bewohner der Einrichtung mit Depressionen oder Psychosen.
Was motiviert eine Kinderärztin, in diesem Umfeld zu arbeiten? Die Medizinerin verweist auf die Werte der Erlöserschwestern, in der sie ihre eigenen Überzeugungen wiedergefunden hat. Nämlich die Not der Zeit zu erkennen und Menschen dort Hilfe zu leisten, wo sie am Nötigsten gebraucht wird. Im Miteinander Verantwortung übernehmen, Vertrauen schaffen und da sein, das ist ihr Credo. "Dass ich ein Teil dieser Dienstgemeinschaft sein darf, ist für mich sehr motivierend. Dafür bin ich sehr dankbar."

Die Arbeit ist aber nicht immer einfach. Die Geflüchteten kommen meist aus Gebieten mit mangelnder ärztlicher Versorgung. "Viele haben noch nie ein Fieberthermometer gesehen", weiß Dr. Anvari. "Und viele kommen mit der Hoffnung, dass wir alles heilen können." Zum Beispiel eine Querschnittslähmung oder eine chronische Erkrankung. Erwartung und Realität klaffen mitunter weit auseinander. Das sei bitter, weil die Flüchtlinge viel auf sich genommen haben, um hier Heilung zu finden.
Es gibt aber genauso viele schöne Momente. Beispielsweise wenn bei jedem Besuch in der Praxis das Vertrauensverhältnis gegenüber der Ärztin oder den Ärzten wächst. "Es ist ein total schönes Arbeiten, wenn man Menschen das Gefühl gibt, dass man sich ihrer annimmt", sagt die 52-Jährige.

Die Corona-Pandemie hat der engagierten Ärztin noch ein zusätzliches Aufgabengebiet beschert. Gemeinsam mit Professor Dr. Peter M. Kern, Immunologe am Universitätsklinikum Fulda , ist Dr. Anvari verantwortlich für eine Antikörperstudie, die derzeit in drei Testphasen in der Einrichtung durchgeführt wird. Dabei geht es vor allem um Antworten auf die Fragen nach der Entwicklung und Qualität der Immunantwort nach einer Covid-Erkrankung. Die noch laufende Auswertung stimmt hoffnungsvoll. "Es gibt erste Daten, dass die Immunität langfristig anhält."
Zur PersonDr. Özlam Anvari absolvierte ihr Medizinstudium an der Hochschule Hannover. Ihre Famulatur auf dem Gebiet Kinderheilkunde absolvierte sie an der Ege Universität und in einem Kinderkrankenhaus im türkischen Izmir sowie im Gebiet Innere Medizin am Royal United Hospital in Bath in England. Ihr Praktisches Jahr verbrachte sie am Memorial-Sloan-Kettering Cancer Center in New York. Die Berufliche Weiterbildung zur Kinderärztin erfolgte im Kinderkrankenhaus auf der Bult in Hannover.Mit ihrer Anerkennung als Fachärztin für Kinderheilkunde 2002 wechselte sie an die Uniklinik Würzburg, wo sie zwölf Jahre als Fachärztin in der Früh- und Neugeborenen-Intensivmedizin sowie in der pädiatrischen Endokrinologie tätig war. Seit Juli 2015 ist Dr. Özlem Anvari für die kinderärztliche Grundversorgung in der Anker-Einrichtung der Regierung von Unterfranken zuständig, wo sie im Dezember 2020 die Leitung des ärztlichen Versorgungsteams übernommen hat. is