Seit fast 80 Jahren ist die NS-Herrschaft in Deutschland Geschichte – doch der Antisemitismus dauert an. Hakenkreuz-Schmierereien finden sich auch in der Innenstadt Schweinfurts. Die rechtsextreme Kleinstpartei "Dritter Weg" veranstaltete jüngst Kundgebungen in Oberndorf.
Die "Initiative gegen das Vergessen" möchte angesichts der andauernden Judenfeindlichkeit über die Nazi-Herrschaft in Schweinfurt und Umgebung aufklären. Am 9. November, dem Tag, an dem sich 1938 die Reichspogromnacht ereignet hatte, veranstaltete die Initiative eine Führung durch die Schweinfurter Innenstadt. Gerhard Rauscher und Norbert Lenhard erklärten etwa 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, wie die Schweinfurter Juden, die 1933 etwa 0,9 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachten, unter dem NS-Regime litten.
Rauscher und Lenhard erklärten, dass Juden vor der Machtergreifung der Nazis aktiv am gesellschaftlichen Leben teil hatten. Sie waren Arbeiter und Geschäftsleute und gehörten größtenteils der bürgerlichen Mittelschicht an. Geschäfte wie die Dreyfuß-Bank am Markt waren etabliert. 113 männliche Schweinfurter Juden kämpften im Ersten Weltkrieg. Lediglich in der Religion unterschieden sich die Juden von der restlichen Stadtbevölkerung.
Das Rathaus wird braun
Judenfeindlichkeit war schon lange vor 1933 Realität: Bereits im Mittelalter wurden Juden in Schweinfurt aus der Stadtgesellschaft ausgegrenzt, erklärt Gerhard Rauscher. Ihnen wurden bestimmte Stadtteile zugewiesen, etwa die schon damals so benannte Judengasse. Zeitweise durften sie nicht in der Stadt wohnen. Sie hatten keine Bürgerrechte, hielten als Sündenböcke her und wurden als Heiden verfolgt.
Bereits vor der Machtergreifung marschierten Nazis auf dem Schweinfurter Marktplatz auf. Die NSDAP war in der Stadt zunächst eine Randerscheinung, hatte weniger Wählerstimmen als in Deutschland insgesamt. Es regte sich Widerstand: Hitler war zweimal in Schweinfurt, wobei er 1932 von den Schweinfurtern ausgepfiffen und verhöhnt wurde, sagten Rauscher und Lenhard. Daraufhin griffen seine Begleiter die Passanten an.
Nach 1933 begannen die Nazis, Staat und Gesellschaft gleichzuschalten, die Oppositionspartei SPD zu kriminalisieren und Nationalsozialisten in allen Verbänden und Verwaltungen einzusetzen, sagen Lenhard und Rauscher. Auch der damalige OB Merkle wurde durch das NSDAP-Mitglied Ludwig Pösl ersetzt, ab 19. Juli 1933 bestand der Stadtrat ausschließlich aus Nazis. In der ganzen Stadt wehte Hakenkreuzfahne. Die Gewerkschaften der Industriestadt - zerschlagen. Die Spitalstraße wurde in "Adolf-Hitler-Straße" umbenannt und "arisiert", indem zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen wurde. Die "Verordnung zum Ausschluss der Juden aus dem Wirtschaftsleben" entzog 1938 endgültig ihre Existenzgrundlage.
Ausmaß der Reichspogromnacht
Zu jedem 9. November gedachten die Nazis am Marktplatz in Schweinfurt des Hitlerputsches 1923. Unter anderem von dort schlug im Laufe des 9. Novembers 1938 die Reichspogromnacht los. Die Nazis mobilisierten die Bevölkerung und warben in den Fabriken, sich zu beteiligen. Unter dem Motto "Es gibt keine guten Juden" wurde in der Nacht auf den 10. November, um vier Uhr, Alarm gegeben. Um sieben Uhr wurden die männlichen Juden im Gefängnis in der Hadergasse in "Schutzhaft" genommen, 30 von ihnen anschließend ins KZ Dachau verschleppt.
Menschenmengen drangen in jüdische Wohnungen und Geschäfte ein und zertrümmerten Inventar, bespuckten die Besitzer und warfen ihren Hausrat auf die Straße. Ein verlesener Zeitzeugenbericht spricht von Mehlsäcken, die in der Theresienstraße aus bloßem Zynismus auf die Straße gestreut wurden. "Reichskristallnacht" nannte die NS-Propaganda das Geschehen wegen des Klirrens zerschlagenen Glases. Die Synagoge wurde entweiht, "scherzhaft" ein Strick zur Erhängung des Rabbis angebracht.

Es war ein Test für den Krieg: Wie weit konnte das Regime gehen, bis die Bevölkerung sich widersetzt. Doch in Schweinfurt wie im Rest des Landes beteiligte sich die Bevölkerung an der Gewalt, ließ sie zumindest passieren und bereicherte sich an jüdischem Eigentum. 1942 wurden in drei Transporten die verbliebenen Schweinfurter Juden über Würzburg deportiert.
Erinnerungskultur erst ab den 80ern
Weil die Profiteure der Enteignungen aufgrund des dadurch erlangten Reichtums sehr einflussreich waren, wurde bis zu deren Ableben in den 80ern kaum über die Gräueltaten gesprochen. Mit Beginn der Erinnerungskultur gründete sich die "Initiative gegen das Vergessen". Die Ehrenamtlichen tragen seither Informationen aus dem Stadtarchiv und anderen Quellen zusammen, publizieren sie und veranstalten Führungen.
Rauscher zeigte sich auf Nachfrage begeistert vom Andrang, wünsche sich allerdings, dass auch jüngere Menschen teilnehmen würden. Lenhard besorgt die heutige rassistische Gewalt, sagt er. Darin zeigten sich Muster der NS-Ideologie.