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Grafenrheinfeld: "Es fehlt was": Für viele Zuschauende geht mit der Sprengung der Kühltürme ein Stück Heimat verloren

Grafenrheinfeld

"Es fehlt was": Für viele Zuschauende geht mit der Sprengung der Kühltürme ein Stück Heimat verloren

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    Die Sprengung der Kühltürme des stillgelegten Atomkraftwerks Grafenrheinfeld lockte Tausende Zuschauerinnen und Zuschauer an den Rand des Sperrgebiets.
    Die Sprengung der Kühltürme des stillgelegten Atomkraftwerks Grafenrheinfeld lockte Tausende Zuschauerinnen und Zuschauer an den Rand des Sperrgebiets. Foto: Martina Müller

    Um 19.56 Uhr ertönt der erste Knall, keine 30 Sekunden später ist alles vorbei: Dann bleibt von den Kühltürmen des Atomkraftwerks Grafenrheinfeld nur noch eine Staubwolke übrig, die auch eine Stunde später noch über die Felder zieht. Was nur wenige Augenblicke dauert, hat einen umso längeren Vorlauf. Auch an diesem Abend. Nur dreißig Minuten bevor Sprengmeisterin Ulrike Matthes tatsächlich das "Go" gibt, steht die Sprengung noch auf der Kippe.

    Es ist 16.30 Uhr, und noch scheint alles nach Plan zu laufen. Dietmar Stammberger, 68, und sein Enkel Lars Senftleben, 11, sitzen in ihren Campingstühlen am Adam-Tasch-Weg in Grafenrheinfeld. Luftlinie zu den Türmen: etwa 1,5 Kilometer. Seit einer Stunde warten die beiden mit der Familie schon dort. "Wir haben damit gerechnet, dass sehr großer Andrang ist und viele Zuschauer da sein werden", erklärt der 68-Jährige. Der bleibt um diese Uhrzeit zwar noch aus, später aber werden sich mehrere Tausend Schaulustige das Spektakel ansehen. 

    Auch aus Coburg gibt es Verbindungen zu den Kühltürmen

    Stammberger ist mit seiner Familie aus der Nähe von Coburg angereist. Und auch nicht einfach so: Sein Vater, Betonbauer und Polier, habe in den 70er Jahren die Kühltürme mit aufgebaut. Stammberger hatte gerade frisch seinen Führerschein, erinnert er sich, als er seinen Vater zur Baustelle nach Grafenrheinfeld gefahren habe. Die erste lange Autofahrt sozusagen. "Und ich bin als Urenkel dabei, wenn das gesprengt wird, was mein Uropa errichtet hat", sagt Lars Senftleben. 

    Dietmar Stammberger und sein Enkel Lars Senftleben aus Coburg bei der Sprengung der Kühltürme in Grafenrheinfeld.
    Dietmar Stammberger und sein Enkel Lars Senftleben aus Coburg bei der Sprengung der Kühltürme in Grafenrheinfeld. Foto: Lisa Marie Waschbusch

    Hört man sich an diesem Abend bei den Zuschauenden um, dann geht es bei den meisten nicht mehr um Atomkraft an sich, es geht um das Heimatgefühl, das sie mit den Kühltürmen verbinden. "Immer wenn man irgendwo war und heimgefahren ist und man hat die Türme gesehen, hat man gewusst, jetzt dauert es nicht mehr lange", sagt Renate Moreth, 68, aus Geldersheim (Lkr. Schweinfurt).

    Viele der Zuschauenden kennen jemanden, der mal dort gearbeitet hat, einige waren selbst dort tätig. Es sind Erinnerungen, die sie mit dem Kraftwerk verbinden. An eine Marathon-Vorbereitung, die immer wieder an den Türmen vorbei geführt hat. Oder an die Kindheit, als die Mutter sagte, die Türme seien eine Wolkenmaschine und man eben geglaubt hat, dass da oben wirklich Wolken herauskommen.

    Renate Moreth ist zusammen mit Hans Schäfer, 71, zum Damm gekommen, um sich die Sprengung anzusehen. Erst sei man gegen den Bau gewesen, sagt Schäfer. Jetzt habe der Anblick aber dazu gehört. "Wir sind nicht die, die es ohne die Türme erlebt haben, aber man kann sich gar nicht mehr daran erinnern, wie es ohne war", sagt Moreth.

    Es sind Erinnerungen – ein Marathon, die Wolkenmaschine

    Direkt an der Absperrung am Adam-Tasch-Weg sitzen Martin Baumeister, 61, und Ingo Peters, 56, aus Oberstreu (Lkr. Rhön-Grabfeld) im Gras. Fünf Jahre lang war Baumeister einst immer wieder für mehrere Wochen in den Kühltürmen tätig. Die Firma, bei der er damals gearbeitet hat, war als Unterstützung für die Betriebselektriker im Einsatz. Dass die Türme bald weg sind, finden die beiden Männer "sehr traurig", sagen sie. "Ein industrielles Wahrzeichen von Schweinfurt wird plattgemacht." 

    Martin Baumeister (links) und Ingo Peters aus Oberstreu finden es "sehr traurig", dass die Kühltürme gesprengt werden.
    Martin Baumeister (links) und Ingo Peters aus Oberstreu finden es "sehr traurig", dass die Kühltürme gesprengt werden. Foto: Martina Müller

    Auf der anderen Mainseite findet indes ein Anti-Atom-Frühstück mit etwa 60 Teilnehmenden statt. "Wenn die Sprengung sich verzögert, hat sich wahrscheinlich Markus Söder an einem der Türme festgeklebt", witzelt Christian Schäflein, Sprecher der BA-BI (Bürgeraktion Lebens-, Umwelt- und Klimaschutz/Bürgerinitiative gegen Atomanlagen) noch, nichts ahnend, dass es tatsächlich eine Verzögerung geben wird.

    Ein Polizeihubschrauber kreist über den Türmen - Spekulationen gehen los

    Es ist 18.30 Uhr, alle Handys und Kameras sind auf die Kühltürme gerichtet. Fünf Minuten vergehen, zehn. Kein Warnsignal, nichts. Es dauert nicht lange, dann gehen die Spekulationen los, auch, weil der Polizeihubschrauber, der seit einiger Zeit über den Türmen kreist, nicht unbeobachtet bleibt. Die Nachricht des laufenden Polizeieinsatzes verbreitet sich schließlich wie ein Lauffeuer am Adam-Tasch-Weg. Ein Pro-Atomkraft-Aktivist ist auf einen Strommast geklettert. Ein paar wenige packen zusammen und gehen.

    Harry Weismantel, 47, ist mit drei Kindern und einem Hund aus Nürnberg angereist, um sich die Sprengung anzuschauen. "Ich habe zufällig davon gelesen, das ist ein einmaliges Erlebnis", sagt er. Er hat sich zu seinen Bekannten Renate Moreth und Hans Schäfer aus Geldersheim gestellt. Als es zwischenzeitlich heißt, die Sprengung könnte womöglich auf Samstag verschoben werden, zeigt er sich enttäuscht.

    Um 19.30 Uhr scheint klar: Es wird heute doch noch gesprengt

    Die Informationen sind dünn, der Handyempfang weg, eine Internetverbindung hat kaum jemand. Manche halten noch immer ihre Kameras auf die Türme, obwohl noch gar nicht klar ist, ob am Freitagabend überhaupt gesprengt wird. Um 19.30 Uhr dann Entwarnung: Der Mann ist vom Strommast entfernt, bald geht es los.

    Mit fast anderthalb Stunden Verspätung ertönt ein lauter Knall, der erste Turm bricht ein. Bis der nächste Knall vielerorts ankommt, fällt der zweite Turm schon in sich zusammen. Die Zuschauenden jubeln, die meisten packen gleich danach zusammen und treten den Heimweg an. In Bergrheinfeld ziehen viele in Richtung Bercher Stuben. Eine Schweinfurterin sagt: "Wenn ich eher daran gedacht hätte, hätte ich hier einen Bratwurststand aufgemacht."

    Renate Moreth kam aus Geldersheim, um sich die Sprengung anzuschauen. Für sie bedeuteten die Türme ein Stück Heimat.
    Renate Moreth kam aus Geldersheim, um sich die Sprengung anzuschauen. Für sie bedeuteten die Türme ein Stück Heimat. Foto: Martina Müller

    Der Moment, als die Türme binnen weniger Sekunden in sich zusammenfallen, bleibt Anlagenleiter Bernd Kaiser und Grafenrheinfelds Bürgermeister Christian Keller ein Leben lang in Erinnerung. Kaiser erzählt, man habe sich kurz umarmt, als es vorbei war. "Natürlich ist es mein Job, das Kraftwerk kaputtzumachen", sagt er mit einem Schmunzeln. Doch zu sehen, wie die Kühltürme fallen, sei dann doch ein "trauriger Moment" gewesen.

    Grafenrheinfelds Bürgermeister hatte "gemischte Gefühle"

    Christian Keller hatte "gemischte Gefühle", wie er ehrlich zugibt. "Es war hier meine Laufrunde, es war eine Landmarke und auch ein Stück erfolgreicher Grafenrheinfelder Geschichte." Das berühmte "Die vier Türme von Grafenrheinfeld" gelte nun nicht mehr, jetzt weisen wieder alleine die beiden markanten Kirchtürme weithin sichtbar auf den Ort hin.

    Am Adam-Tasch-Weg haben sich Hans Schäfer, Harry Weismantel und Renate Moreth die Sprengung irgendwie spektakulärer vorgestellt. "Sie sind einfach zusammenfallen, wie ein Kartenhaus", sagt Schäfer. Weil der Hubschrauber über ihnen geflogen sei, habe man die Warnsignale nicht gehört. Der Blick der drei geht auf die Reste der Staubwolke. Weismantel sagt: "Jetzt sind sie fort, als wären sie nie dagewesen, die kehren das jetzt zusammen und dann ist gut." Schäfer fügt hinzu: "Es fehlt was."

    Sprengmeisterin Ulrike Matthes Stunden nach der Sprengung erste Statements für Medienvertreter.
    Sprengmeisterin Ulrike Matthes Stunden nach der Sprengung erste Statements für Medienvertreter. Foto: Patty Varasano

    Es ist gegen 21.30 Uhr, als Sprengmeisterin Ulrike Matthes von der beauftragten Thüringer Sprenggesellschaft im früheren Informationszentrum des Kernkraftwerks ankommt. Sie ist erschöpft, aber zufrieden, nach einem langen Arbeitstag. Kollegen umarmen sie, gratulieren zur perfekten Sprengung. "Jede Sprengung ist immer etwas Besonderes, nie Normalität", sagt Matthes. "Es ist super gelaufen, alles so, wie wir es geplant haben und das Team hat eine super Arbeit gemacht."

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