Die Heilig-Kreuz-Kirche ist gut gefüllt. Es ist kurz nach 18 Uhr, als Alice Schwarzer durch den Seiteneingang kommt. Applaus. Schwarzer strahlt. Dieses Strahlen, das über das ganze Gesicht geht und bei dem die Augen ganz schmal werden hinter der bräunlichen Brille. Ein Gruppenfoto und wenige Minuten später steht sie vorne vor dem Altar am Mikrofon. "Die meisten von Ihnen werden inzwischen wissen, dass ich in Oberlauringen und Stadtlauringen gelebt habe", sagt die 80-Jährige.
Gleich soll in der Kirche ein Buch vorgestellt werden, geschrieben von vier Autorinnen und Autoren aus Oberlauringen und Umgebung. Jahrelang haben sie zur jüdischen Geschichte Oberlauringens recherchiert und ihre Erkenntnisse aufgeschrieben. Alice Schwarzer, Journalistin, Frauenrechtlerin, Aktivistin und sicher eine der umstrittensten Frauen Deutschlands, wird die Veranstaltung moderieren. Und damit auch einen Teil ihrer eigenen Geschichte erzählen.
Ihre Erinnerungen an Oberlauringen sind schwach, sagt Schwarzer, nur eine hat sie im Kopf: Ein Haus, mit einem Raum, in dessen Mitte ein Tisch steht und darunter sind kleine Katzen oder Hunde. Mehr ist da nicht. Aber sie war auch erst ein halbes Jahr alt damals, im August 1943, als sie mit ihren Großeltern, die sie Mama und Papa nannte, nach Unterfranken kam und am Plan 1 beim Dorfschmied Steigmeier Unterschlupf fand. Sechs Wochen nach der Bombennacht in ihrer Geburtsstadt Wuppertal. Anderthalb Jahre später dann verließ die Familie das damals als Nazi-Hochburg geltende Oberlauringen und zog nach Stadtlauringen. Ein Ort, an den sie deutlich mehr, deutlich detailliertere Erinnerungen hat.
Vor der Veranstaltung führt Alice Schwarzer durch Stadtlauringen
Zwei Stunden vor der Buchvorstellung am Abend steht Alice Schwarzer vor der Bäckerei Braun. Es sei das einzige Haus, in dem ihre Großmutter damals verkehrte, sagt Schwarzer. Es dauert nicht lange, da kommt Hans-Jürgen Braun aus der Bäckerei, der Sohn des inzwischen verstorbenen Arno Braun. Einer der Letzten, die die Familie Schwarzer damals selbst erlebten.
"Ich war klein, aber ich erinnere mich", sagt Schwarzer zu Hans-Jürgen Braun. "Hinten war die Küche." Das sei aber schon lange nicht mehr so, entgegnet Braun. Wie alt sie denn jetzt sei, fragt der Bäcker. "Ich bin 80", antwortet Schwarzer, "das hört sich alt an, muss ich jetzt einfach mal zugeben." Hans-Jürgen Braun, offenbar erstaunt über die Zahl, sagt: "Jeder wird alt werden, aber nicht sein." Und damit verabschieden sie sich.

Bei einem Besuch 2004 habe Bürgermeister Friedel Heckenlauer sogar ein Treffen mit damaligen Zeitgenossinnen organisiert, erinnert sie sich gerne.
. Vorbei an der Kirche, die sie damals öfter besuchte, am Marktplatz, auf dem sie geimpft wurde und auf dem der Milchladen ihrer Freundin Carola war. Der Blick geht auf das Gebäude, in dem Schwarzer eingeschult wurde. "In größeren Abständen bin ich immer wieder hergekommen", sagt sie auf einer Bank vor dem Rathaus sitzend.Alice Schwarzer war schon mit vier Jahren der "Familienchef"
Es geht wieder zurück, vorbei an der Bäckerei und an den Ort, an dem damals ein Kino gewesen sein soll. "Da habe ich meine Großmutter öfter abgeholt", erinnert sich Schwarzer. "Die Großmutter hatte die Nazi-Zeit und die Aufmärsche in Oberlauringen mitbekommen und ging wenig vor die Tür." Der Großvater war wieder nach Wuppertal gegangen, um eine Existenz aufzubauen und Alice und ihre Großmutter später nachzuholen. Die kleine Alice musste sehr früh selbstständig sein und wurde, so schreibt sie es auch in ihrer Autobiografie, mit vier Jahren zum "Familienchef".

Bei den Schwarzers habe es nie das klassische Rollenbild gegeben, sagt die 80-Jährige heute. Etwas, das damals ganz und gar ungewöhnlich gewesen sei. "Die Großmutter hat sich nicht sonderlich für den Haushalt und ein kleines Kind interessiert", erzählt Schwarzer. Anders als ihr Großvater. "So ist meine soziale Mutter ein Mann, was für eine Feministin ja auch ganz interessant ist."
Überhaupt habe sie die Zeit in Unterfranken sehr geprägt. "Das Leben, so frei auf dem Dorf. Ich bin auch in großer Bescheidenheit aufgewachsen, das hat mich nie verlassen."

Und dann kommt irgendwann das Haus vom Bauer Hohn, in dem sie ab Dezember 1944 mehrere Jahre gelebt hat. Drei Fenster zur Straßenseite, knapp 40 Quadratmeter für drei Leute. Was damals für die Schwarzers die ganze Wohnung war, ist heute lediglich das Wohnzimmer des Sohnes der Familie, dem das Haus mittlerweile gehört. "Im Hof gab es einen Kettenhund", erzählt Schwarzer im Vorbeigehen. "Da hat man mich manchmal in der Hütte von dem gefunden, weil er mir so leidtat."
Sie nannten sie Alois, weil sie Alice nicht aussprechen konnten
Schon oft, erzählt Schwarzer, habe sie bei ihren Besuchen in Stadtlauringen bei dem Haus geklingelt und sei von den Besitzern immer sehr herzlich empfangen worden. "Aber ich will die jetzt nicht schon wieder belästigen", sagt sie dann und führt weiter Richtung Lauer, wo sie als Kind immer Dämme gebaut habe. Auch die Gärtnerei neben ihrem ehemaligen Wohnhaus habe es damals schon gegeben, aber deutlich kleiner.
Und auf dem Rückweg kommt doch noch jemand aus Schwarzers ehemaligem Haus. Sichtlich erfreut über ihren Besuch, fällt die Frau ihr um den Hals. Mariette Ankenbauer und ihre Familie kauften das damals leerstehende Haus in den 1980er-Jahren. Aus Erzählungen kennt sie die Geschichte der kleinen Alice, die alle nur Alois nannten, weil sie den Namen nicht aussprechen konnten. "Ihre Großmutter war immer schicker gekleidet, ist mit dem Hut durchs Dorf gegangen. Das war schon etwas anderes."

Ankenbauer holt ihre Katze Mia, die auch Alice Schwarzer noch kennt. Bei ihrem letzten Besuch war Mia gerade angefahren worden, jetzt ist das Tier 16 Jahre alt. "Die sieht aus wie meine Mucki", sagt Schwarzer. Mucki, Schwarzers erste Katze, die sie sich aus der Scheune hinterm Haus geholt hatte und die 1949 mit ihr und ihrer Großmutter zurück nach Wuppertal ging.
Und nicht nur das: Alice Schwarzer brachte aus Franken auch einen Dialekt mit. "Ich kam zurück und stand auf dem Schulhof. Da habe ich Sätze wie 'Wir können fei Fangeles spiel' gesagt. Die Kinder schrien vor Begeisterung", erzählt sie. Und sie habe auch schnell gemerkt, dass Mädchen in Wuppertal keine Schürzen tragen. Ihre Liebe zu Franken, ja ganz Bayern, sei bis heute geblieben. "Franken ist mir emotional sehr nah."
Autorinnen und Autoren näherten sich dem Thema unterschiedlich an
Zurück in die Heilig-Kreuz-Kirche. 100 Einladungen hat Bürgermeister Heckenlauer verschickt, zahlreiche weitere Interessierte sind gekommen. Die Gemeinde unterstützte die Autorinnen und Autoren mit Fördergeld, und Heckenlauer fragte bei seiner Bekannten Alice Schwarzer an, um das Projekt zu unterstützen.
Alice Schwarzer zeigt sich "tief beeindruckt" von dem Werk von Ilse Vogel, Friedl Korten, Ferdinand Freudinger und Winfried Krappweis. "Wir müssen begreifen, wie einfach in die Normalität das Grauen einbrechen kann", sagt sie. Schwarzer sei zwar noch sehr klein gewesen, aber sie komme aus einer Familie, die sehr kritisch gegenüber den Nazis gewesen sei. "Mir war früh klar, was in dieser dunklen Zeit passiert ist."
Wie die vier Autorinnen und Autoren sich dem Thema genähert haben, ist unterschiedlich. Friedl Korten etwa, als einzige echte Oberlauringerin, wurde in einem "Judenhaus" geboren, das ihr Opa 1910 gekauft hatte. Ilse Vogel sagt, in ihrer Familie sei oft über Juden gesprochen worden, später sei sie oft nach Israel geflogen, habe in den Archiven dort recherchiert und sei dann auf den Ort Oberlauringen aufmerksam geworden. Ferdinand Freudinger hat sich erst später so richtig damit beschäftigt. Seine Eltern seien sehr unpolitisch gewesen, sagt er.

Und Winfried Krappweis lebt heute in dem Haus in Stadtlauringen, in dem einst die einzige jüdische Familie des Ortes ihr Zuhause hatte. Alice Schwarzer entdeckte erst in der Dokumentation die Hirschbergers und wie die Nachbarn von gegenüber, das Ehepaar Gerschütz, mutig zu ihnen gehalten haben. Darauf angesprochen habe Anastasia Gerschütz früher gesagt: "Ich weiß, ich stehe mit einem Bein in Dachau." "Unglaublich mutige Menschen", sagt Schwarzer.
Zu der Buchidee kam es letztlich 2018, nachdem die Autorinnen und Autoren Ausstellungen gemacht und überlegt hatten, was man denn jetzt mit dem ganzen Material machen könnte. Die Entscheidung fiel auf ein Buch, in dem jeder seine Erkenntnisse zusammengetragen hat. An diesem Abend in der Heilig-Kreuz-Kirche gibt es daraus einige Kostproben: Jeder der vier Autorinnen und Autoren liest ein Kapitel vor.
Alice Schwarzer regte 2004 an, den jüdischen Friedhof zu restaurieren
"Sie haben das Grauen aufgeschrieben, ohne wegzusehen", sagt Alice Schwarzer. "Sie haben die Opfer wieder zu Menschen gemacht." Schwarzer selbst hatte sich schon 2004 an Bürgermeister Heckenlauer gewendet und angeregt, den damals verwüsteten jüdischen Friedhof in Oberlauringen zu restaurieren und das jüdische Leben des Dorfes aufzuschreiben.
"Aber es gab Bürgerinnen und Bürger, die mussten auf meine Anregung nicht warten", sagt Schwarzer. Sie bewundert die vier für ihre so ehrliche Dokumentation: "Wenn es eine solche Aufarbeitung der eigenen Geschichte öfter gäbe, wäre Deutschland ein anderes, ein besseres Land."