Noch nie in der Geschichte des Abendlands gab es eine solche Selbstverstümmelung.“ Der Satz ist zwei Jahre alt. Er ist auf dem Neujahrsempfang 2014 der Mediengruppe Main-Post gefallen. Gesagt hat ihn Ehrengast Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“.
Di Lorenzo meinte damals nicht etwa die Asylpolitik von Angela Merkel, sondern den Hang der Zeitungsbranche, ihre angestammten Fähigkeiten schlechtzureden und ihre Druckausgaben zugunsten des Internets zu vernachlässigen.
Zwei Jahre später, an selber Stelle, aus gleichem Anlass, also beim Neujahrsempfang 2016 im Casino der Schaeffler AG in Schweinfurt, zeigt sich, wie sehr sich die Diskussion gedreht hat. Inzwischen führen andere das Wort „Abendland“ in ganz anderem Zusammenhang im Mund. David Brandstätter, Geschäftsführer der Mediengruppe Main-Post, findet klare Worte für den Stimmungswandel: Journalisten der Main-Post wurden persönlich Ziel von Drohungen und Attacken, nur „weil sie nicht in einen unsäglichen Chor von Fremdenfeindlichkeit, Hass und Intoleranz einstimmen wollten“.
Aus der Allgegenwart von Stimmungsmache in den sozialen Netzwerken leitet Brandstätter einen klaren Auftrag an die klassischen Medien ab: Nur sie könnten Unvoreingenommenheit und Wahrhaftigkeit garantieren. „Das Netz kann eine Falle sein, in der man nur Selbstbestätigung bekommt. Die Menschen bei Pegida glauben, sie sind in der Mehrheit. Das schult nicht zur Toleranz.“ Die Zeitung hingegen schule, den eigenen Verstand zu gebrauchen. „Wir erreichen täglich 400 000 Menschen. Das ist fünf- bis sechsmal die Allianzarena – jeden Morgen.“
Zum vierten Mal in Folge habe die Mediengruppe 2015 den Umsatz steigern und die Zahl der Mitarbeiter vergrößern können, so der Geschäftsführer. „Wir wollen die Zeitung überarbeiten und noch ein bisschen besser machen. Wir wollen einsteigen in den regionalen E-Commerce, wir wollen das Logistik-Thema weiter ausbauen, wir investieren im Maschinenbereich.“
Wie immer verbindet der Neujahrsempfang, diesmal unter dem Stichwort „Glück“, Information und Unterhaltung. Für die musikalische Umrahmung, wenn man so will, ist diesmal der kanadische Varietékünstler Michel Lauziere zuständig, der den unmöglichsten Gegenständen Melodien entlockt. Berühmt ist er nicht zuletzt für seinen Hupenanzug: ein oranger Overall, an dem überall Hupen unterschiedlicher Tonhöhen befestigt sind. Wenn Lauziere damit etwa Beethovens Fünfte intoniert, muss er die lustigsten Verrenkungen machen. Fester Programmpunkt ist auch das launige Zwiegespräch zwischen Anzeigenchef Matthias Faller und dem Schweinfurter Oberbürgermeister Sebastian Remelé. Der erkennt einwandfrei einen vorgelesenen Vers als Rückert-Gedicht. „Als Schweinfurter Oberbürgermeister muss man da den Überblick haben.“ Allerdings, so räumt er bescheiden ein: „Ich habe natürlich nicht alle 20 000 Gedichte Rückerts gelesen. Sondern nur vielleicht 18 000.“
Sebastian Remelé (CSU), der weiterhin einer schuldenfreien Stadt vorsteht, die mehr Arbeitsplätze hat als Einwohner, macht allerdings auch keinen Hehl aus seiner Sorge beim Thema Flüchtlinge: „Das ist ein ungelöstes Problem, und die Bundesregierung sieht sich außerstande, das Problem zu bewältigen.“ Wie der Bundespräsident befürchtet der Oberbürgermeister eine Spaltung Europas: „Wie gehen wir mit der Isolierung in Europa um?“

Ehrengast ist abermals ein Journalist: Sven Gösmann, seit 2014 Chefredakteur der Deutschen Presse-Agentur. Gösmann, Jahrgang 1966, ist Westfale und dennoch FC-Bayern-Fan, Schildkröten-Liebhaber („Sie widersprechen nicht und sind die Hälfte des Jahres nicht da.“) und Optimist. Zumindest, was die bevorstehende Fußball-EM angeht: „Die Mannschaft ist gut. Der Trainer ist gut. Und Kevin Großkreutz ist nicht dabei – das kann ein Vorteil sein.“
Die weit über 600 Gäste im stimmungsvoll ausgeleuchteten Casino erfahren all das beim Medientalk mit Main-Post-Chefredakteur Michael Reinhard. Beim Spiel „Sekt oder Selters“ zeigt sich Gösmann, Chef der größten Redaktion Deutschlands, als gelassener, besonnener und schlagfertiger Journalist, der selbst Shitstorms gegen die dpa als vorgeblichem Hauptquartier der regierungsgesteuerten Desinformation mit trockenem Humor begegnet: „Ich muss jetzt mal mein Handy wieder anmachen, falls Angela Merkel anruft und den Tagesbefehl durchgibt.“
Neujahrsempfang der Mediengruppe MainPost - Rede des Geschäftsführers David Brandstätter. Posted by Andreas Kemper on Mittwoch, 20. Januar 2016
Die Hetze lässt ihn dennoch nicht kalt. „Was macht das mit Ihnen“, fragt Michael Reinhard. Sie löse Nachdenklichkeit („Was haben wir falsch gemacht?“), Trotz und Angst bei ihm aus, sagt Gösmann. Jüngst hat er Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg getroffen – Chefin eines neuen Mediums, das auch der dpa-Chefredakteur für eine zwar unverzichtbare, aber durchaus problematische Informationsquelle hält. „Natürlich hat Mark Zuckerberg ein Monster geschaffen."
Die übermäßige Beachtung der Stimmungsmache hält er für einen Fehler: „In jeder Fernsehsendung werden dauernd irgendwelche Tweets verlesen.“ Dabei seien deren Urheber oft nicht auszumachen. „All das wird nur so stark, wie wir es werden lassen.“
Der Journalismus müsse versuchen, diejenigen mit Aufklärung und Information zu erreichen, die noch zu erreichen seien. Ansonsten: „Bei den Kriterien unserer Arbeit bleiben und nicht weichen.“
Während sich der Saal anschickt, das ausgezeichnete Büffet von Farroch Radjehs FR Catering in Angriff zu nehmen, gibt es für Gösmann eine kleine – vorübergehende – Enttäuschung. Auf Michael Reinhards Ankündigung, er solle den Saal nicht mit leeren Händen verlassen, fragt er hoffnungsvoll: „Kriege ich den Hupenanzug?“ Das nicht, aber eine Auswahl von „Flüssigkeiten der Region“ zur „sinnvollen Verwendung“. Gösmann: „Sinnvoll heißt ja wohl trinken.“