Nicht nur als behinderte Frau wahrgenommen zu werden, das ist es, was Anja Gock (34) sich wünscht. Sie engagiert sich ehrenamtlich bei der offenen Behindertenarbeit (OBA) der Diakonie Schweinfurt. Anlässlich des Weltfrauentages spricht sie mit Ingrid Licha (65), der Leiterin der Frauengruppe der OBA, im Interview über Gewalt an Frauen mit Handicap. Untersuchungen belegen, dass behinderte Frauen besonders häufig von Gewalt betroffen sind.
2022 erlitten in Unterfranken 23 behinderte Frauen Gewalt, darunter befinden sich laut Angaben der Polizei Unterfranken Angriffe gegen das Leben, die sexuelle Selbstbestimmung sowie Körperverletzungen. Die Dunkelziffer ist hoch, denn nur wenige Verbrechen werden überhaupt zur Anzeige gebracht. Gock und Licha sind sich einig: Frauen mit Handicap müssen gehört werden, nur so kann Gewalt verhindert werden. Sie erklären, welche Barrieren es gibt, wo Betroffene in Schweinfurt Hilfe finden und auf welche Warnsignale Angehörige achten sollten.
Frage: Laut einer Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums ist jede dritte bis vierte Frau mit Handicap von Gewalt betroffen. Die Zahlen sind höher als bei Frauen ohne Behinderung. Warum?
Ingrid Licha: Frauen mit Behinderung fehlt es an Selbstwert und Selbstbewusstsein, weil sie häufig auf Hilfe angewiesen sind. Sie brauchen jemanden, der etwas für sie liest oder übersetzt – sei es schriftlich oder mit Bildern. Ob Frauen mit Handicap Gewalt erfahren, ist abhängig von der Sozialisation, fehlender Information, sowie von Betreuungspersonen. Gewalt gegen behinderte Frauen ist ein großes Problem, nicht nur in Großstädten. Es wird aber selten darüber gesprochen. Es trifft oft Frauen mit geistiger Behinderung, weil sie als schwach angesehen werden und Täter das ausnutzen. Das spricht sich dann im Freundeskreis herum.
Warum ist Gewalt gegen Frauen mit Handicap immer noch ein Tabuthema?
Anja Gock: Die Berührungsängste in der Gesellschaft sind ein Grund. Denn viele wissen gar nicht, dass auch ich eine Frau bin, die Bedürfnisse hat. Sie sehen mich immer nur als behinderte Frau.
Licha: Diese Sichtweise ist in unserer Gesellschaft stark verankert, weil Frauen mit Handicap auf andere Schulen gehen und andere Arbeitsplätze haben. Viele leben in Wohnheimen, das ist eine komplett andere Lebenssituation. Gerade bei der Assistenz stellt sich die Frage: Wo beginnt Pflege und wo hört sie auf? Die körperliche Abhängigkeit kann eine Grenzüberschreitung und Grenzverletzung mit sich bringen. Darüber wird ungern gesprochen.

Haben Sie oder eine Ihrer Freundinnen mit Handicap schon einmal Gewalt oder sexuelle Belästigung erlebt?
Gock: Ich selbst habe noch keine Gewalt erlebt, sowas aber durch meine Arbeit mitbekommen. Ich bin zweite Frauenbeauftragte, deshalb suchen mich Frauen bei Problemen aller Art auf. Je nachdem, um was es geht, versuche ich zu helfen oder wende mich an den Gruppenleiter sowie den Fachdienst. Dabei begleite ich die Betroffenen. Ich bin ihre Vertrauensperson. Ich kann mich an einen Fall erinnern, da ging es um eine Frau mit Handicap, die bei ihrem Freund war und dort von einem anderen Mann sexuell missbraucht wurde. Ihr Freund war in diesem Moment einkaufen.

Wie oft hatten Sie in der OBA mit Gewalt an Frauen zu tun?
Licha: In Schweinfurt kommt das zum Glück nicht oft vor. Ich wurde zweimal von Eltern kontaktiert, deren Kinder Missbrauch erlebt haben und die nicht wussten, wohin sie sich wenden sollen. Da konnte ich zu den Fachberatungsstellen vermitteln. Wichtig ist, dass es eine Person gibt, der man sich anvertrauen kann. Ich habe ein großes Netzwerk, kann Betroffene aber auch zu Terminen mit Beratungsstellen begleiten. Ansonsten geht es mehrheitlich um Grenzüberschreitung, zum Beispiel ungewolltes Anfassen und verbale Gewalt durch Arbeitskollegen und vermehrt auch im sozialen Umfeld.

Welche Barrieren gibt es für behinderte Frauen, auch in Schweinfurt, wenn sie sich Hilfe suchen?
Gock: Behinderte Frauen trauen sich nicht, über Gewalt zu sprechen. Deshalb kommen Betroffene nicht immer auf andere zu. Ich höre aber immer wieder von Fällen, bei denen es zu Belästigung oder Gewalt kommt. Viele nicht behinderte Menschen kennen aber auch die Arbeit der OBA der Diakonie Schweinfurt nicht. Sie wissen über Frauen mit Behinderung wenig und glauben ihnen nicht.
Licha: Oft heißt es, dass behinderte Frauen viel erzählen oder es sich um Fantasiegeschichten handle. Barrieren, die überall existieren, sind fehlende Kommunikation, hohe Abhängigkeiten und ein eingegrenztes Umfeld. Das fängt damit an, dass es kaum Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Schulformen und Berufe gibt, trotz rechtlichem Anspruch. Behinderteneinrichtungen sind zwar wichtig, sie fördern aber weniger den Kontakt zur Gesellschaft. All diese Faktoren hängen miteinander zusammen und können Gewalt fördern.
Gewalt geht an keiner Frau spurlos vorbei. Welche Warnsignale gibt es?
Licha: Bestimmte Sachen machen dann auf einmal Angst. Sei es Dunkelheit oder allein zu bleiben, aber auch Musik kann eine Reaktion auslösen. Ich hatte mal eine Person, die aufgrund eines Fotos, eine Person erkannt hat, die Gewalt verübt hat. Wer eine Person länger kennt, der merkt, wenn etwas nicht stimmt. Auch dann, wenn diese sich verbal nicht äußern kann. Wichtig ist darauf zu achten, ob jemand blaue Flecken hat. Im nächsten Schritt würde ich versuchen herauszufinden, was passiert ist und wie ich unterstützen kann. Dazu braucht es Vertrauen und eine geschützte Umgebung.

Welche Hilfsangebote gibt es für Betroffene in Schweinfurt?
Licha: Wir sind in Schweinfurt gut aufgestellt. Durch die Frauengruppe gibt es Selbstverteidigungskurse, Flyer und Beratungsstellen in leichter Sprache oder das Hilfetelefon. Wir versuchen, Informationen leicht zugänglich zu machen. Beispielsweise wurden am internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen Taschentücher mit Nummern der Hilfetelefone auf den Verpackungen verteilt. Oder wir verlesen Informationen in leichter Sprache bei Veranstaltungen gegen Gewalt, wie dem Tanzflashmob "One Billion Rising".
Was hat sich bereits verändert?
Licha: Es hat sich in den letzten Jahren viel getan. Lange wurden Frauen mit Handicap im Frauenplenum nicht erwähnt, heute gehören wir dazu und unterstützen uns gegenseitig. Unsere Räumlichkeiten können für Beratungen mit Fachstellen, die nicht barrierefrei sind, genutzt werden. Im Flyer "Hilfen bei Gewalt für Menschen mit Behinderung" von der Gleichstellungsstelle Schweinfurt sind wichtige Informationen in leichter Sprache verfasst.
Gock: Die Informationen sind da. Es ist eher so, dass sich Betroffene nicht trauen, auf andere zuzugehen, um über Gewalt oder Belästigung zu sprechen. Frauen mit Handicap sind es nicht gewohnt, dass sie sich äußern dürfen. Sie haben das weder zu Hause noch in der Schule gelernt.

Was können die Frauen selbst tun?
Licha: Sich trauen zu sagen, wenn sich etwas falsch anfühlt. Dazu muss ich lernen, dass ich mich wehren und darüber sprechen darf. Dafür muss ich meine Rechte kennen. All das muss immer wiederholt werden. Mit einem Selbstverteidigungskurs ist es wie mit einem Erste-Hilfe-Kurs, davon weiß man nach drei Jahren auch nicht mehr alles. Unser Rat: In gefährlichen Situationen die Trillerpfeife nutzen und anstatt Hilfe "Feuer" rufen, dann schauen alle, wo es brennt.