Eine Zeit lang schien es, als würden Grenzen verschwinden: In Deutschland fiel die Mauer zwischen Ost und West, in der EU verwaisten mit Öffnung der Staatsgrenzen die Übergänge. Doch diese Zeit ist vorbei, mit der politischen Weltlage werden Grenzen mit Beton, Stacheldraht, Waffen und Worten wieder sichtbar gemacht. Überall kehren längst überwunden geglaubte Grenzen zurück, zwischen Staaten und in den Köpfen der Menschen.
Ein brisantes, spannendes Thema gerade in Deutschland, dem die Autoren Burkhard Müller und Thomas Steinfeld nun ein Buch gewidmet haben. Elf gemeinsame Reisen haben die beiden durch Deutschland unternommen und sind dabei auf natürliche, erstaunliche und sehr persönliche Grenzen gestoßen, auf „reale Geister, die niemand exorzieren kann“. Einen Auszug stellte Autor Burkhard Müller kürzlich in Grafenrheinfeld vor. Eine Premiere der besonderen Art, denn Müller, Literaturkritiker, Autor und seit vielen Jahren Dozent an der TU Chemnitz, ist in Grafenrheinfeld aufgewachsen. Eine Lesung hat er dort allerdings noch nie gehalten und freute sich umso mehr, in der alten Heimat, in die seine Mutter Wiltrud zum großen Familientreffen geladen hatte, „Deutsche Grenzen“ vorzustellen.
Spurensuche quer durch die Republik
Das Werk, das er gemeinsam mit Journalist und Autor Thomas Steinfeld geschrieben hat, ist das Ergebnis einer langen Spurensuche quer durch die Republik und die deutsche Geschichte zu weithin sichtbaren, natürlichen Grenzen wie Rhein, Mittelgebirge und Ostsee, historischen Relikten wie Berliner Mauer und Limes, aber auch zu imaginären Grenzen, die scheinbar nur im Kopf existieren, aber doch gravierende kulturelle Unterschiede markieren, wie der berühmte bayrische Weißwurstäquator und die Grenze des Kranichs im Norden.
Ein schier unendliches Material tat sich auf diesen elf Reisen auf, es gab so viel mehr Grenzen, als die beiden Autoren vermutet hatten. „Gruselig“ kam den jungen Müllers einst schon die nahe Zonengrenze vor, wie sich der Bruder des Autors, Ulrich Müller, in seiner Einführungsrede erinnerte. Die Lesung beschränkte sich dann, abgesehen von einem Abstecher zur Wolfsschanze, heute Winterquartier der Mopsfledermaus, auf mainfränkische Grenzgänge.
Von kindlichen Grenzen und dem Dialekt
Ein Kapitel ist den kindlichen Grenzen des Autors, ein anderes dem unverkennbaren unterfränkischen Dialekt gewidmet. Erzählt wird von Wüstungen im Norden Schweinfurts, der Kleinstaaterei in Euerbach oder den Barrikadengängen der Ermershäuser für ihre Eigenständigkeit. Bollwerke werden beschrieben, darunter das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld, von Thomas Steinfeld als „Festung“ bezeichnet, um vor der „kontrollierten Hölle der Kernspaltung“ zu schützen.
Wie in der anschließenden Diskussion allerdings Peter Schub argumentierte, sollen Wall und Stacheldraht vor Angriffen von außen schützen. Ein gutes Beispiel, ist doch die Interpretation einer Grenze abhängig von Standort und Sichtweise des Betrachters. Nicht im Buch, aber der anschließenden Diskussion kamen noch die „diebischen Grafenrheinfelder“ aufs Tapet, wegen denen einst Waldbesitzer von Thurn und Taxis Gebietsgrenzen verlegte, sowie der Schwebheimer Wald, „hochpolitische Grenze“ zwischen dem protestantischen Schwebheim und dem katholischen Grafenrheinfeld.
Aber auch die Grenzen, die ein Gartenzaun setzt und das gelb markierte Raucherquadrat auf dem Bahnsteig, dem erstaunlicherweise das letzte Kapitel gewidmet ist. Dieser klaustrophobisch enge Bereich ist nämlich ein eindringliches Beispiel für die Wechselwirkung gezogener Grenzen: schon hier auf kleinstem Raum beginnt der Zwist - je nachdem auf welcher Seite man steht, grollt und provoziert es vor und hinter der Grenzlinie.
Das 340 Seiten starke Werk „Deutsche Grenzen“ von Burkhard Müller und Thomas Steinfeld ist im Verlag „Die Andere Bibliothek“ erschienen und kostet 42 Euro.