Das große Glück – wer vermisst es nicht? Insoweit fiel es den Zuschauern leicht, dem Werk des Kleinen Stadttheaters Gerolzhofen zu folgen und sich mit dessen Protagonisten zu identifizieren. Denn der Titel verriet bereits, worum es in dem knapp dreistündigen Stück geht: "Herr Vogel – Ein Märchen über die Suche nach dem Glück". Und auch die Erkenntnis am Ende des Theaterabends, dass es mit dem Glück eine komplizierte Sache ist, dürfte kaum jemanden überrascht haben.
An sechs Terminen sahen bis Sonntagabend nach Angaben von Regisseurin Silvia Kirchhof rund 2400 Zuschauer das als Wandeltheater angelegte Stück, das aus der Feder von Roman Rausch stammt. Spielorte waren vier Privatgärten entlang der Rügshöfer Straße in Gerolzhofen – was dem Theaterstück einen zusätzlichen Reiz verlieh. Denn die in vier Gruppen aufgeteilten Zuschauer erlebten Herrn Vogel – der von vier Schauspielern gespielt wurde – in vier, auch vom Ambiente ganz unterschiedlichen Märchenwelten. Zwischen und an den Spielorten begleiteten vier Erzähler die Zuschauergruppen.
Es wird einsam um Herrn Vogel
Grundsätzlich ist Herr Vogel in dem Stück kein armseliges Geschöpf. Und doch wirkt er irgendwie bedauernswert, denn ihm ist, wie die Glücksfee richtig erkennt, "alles zu wenig und nichts gut genug". Zudem plagt ihn das Gefühl, "kein Glück mit dem Glück" zu haben. Im "Schlaraffenland" durchlebt er die Rosskur, hin zu einem egoistisch handelnden Mann, der seine guten Vorsätze als Idealist und freundlicher Mensch über Bord wirft, als ihm die "Königin der Lügner" weismacht: Wer zweimal lügt, dem kann man getrost glauben. Aus dem genügsamen Herrn Vogel wird ein gefräßiger Kuckuck – der dennoch unzufrieden bleibt mit dem Vorhandenen. Und vor allem wird es immer einsamer um ihn herum, je mehr er von allem für sich allein besitzt.

Doch auch in der "Glücksschmiede", dem nächsten Spielort, wo Goldmarie selbstherrlich Wünsche wie am Fließband erfüllt, muss Herr Vogel feststellen: Um auch nur einen Tag lang "der Kapitän meines eigenen Lebens zu sein", bedarf es nach Goldmaries Lesart vor allem Selbstvertrauen. Doch was sich zunächst als lohnenswerte Tugend darstellt, nämlich so zu schauen, zu gehen und zu denken wie jemand, den nichts und niemand aus der Bahn wirft, das gerät ins Zwielicht. Weil einerseits Selbstvertrauen gar nicht so leicht zu erwerben ist. Und andererseits wird aus einem Träumer schnell ein Blender, der so lange an die von ihm erzeugte Fake-Welt glaubt, bis er den Unterschied zur Realität gar nicht mehr wahrnimmt.

Für die heimliche Liebe wird gespritzt und gesägt
Wen wundert es da, dass Herr Vogel auch mit seinem Äußeren unzufrieden ist. So lässt er sich – anfangs durchaus zögerlich – darauf ein, dass Königin Heidi Siebenschön und deren unterwürfige Zwergen-Helfer an ihm richten möchten, "was die Natur verbockt" hat; zumal er nach deren Beurteilung für die "Gesellschaft nicht zumutbar" ist. "Mach mich schön und begehrenswert", wünscht sich Herr Vogel, der sich so auch bessere Karten bei seiner heimlichen Liebe, dem Fräulein Schubert, erhofft. Doch je mehr in der Schönheitswerkstatt mit Schere, Spritze, Hammer, Tacker und Säge an dem Mann herumgewerkelt wird, desto mehr wird ihm auch das Glück geraubt. Und für die Liebe bleibt am Ende sowieso kein Platz mehr.

Dass letztlich Liebe genauso wenig käuflich ist, wie Schönheit allein aus Äußerlichkeit besteht, muss Herr Vogel im Shoppingtempel "Kauf dich ins Glück" schmerzlich erfahren. In der modernen Form des Tischleindeckdich überzeugt ihn die Zauberin dort: Du bist, was du kaufst! Und am besten kaufst du all das, was du bis dahin noch gar nicht vermisst hast in deinem Leben. Am Ende des Kaufrauschs ist nicht nur die Kreditkarte von Herrn Vogel geschröpft, sondern das Gefühl von Glück stellt sich bei ihm nicht länger als für einen Augenblick ein.
Zuschauer nehmen eine Botschaft mit nach Hause
Das Glück, so lautet das Fazit des suchenden Helden, lässt sich weder einfangen noch kaufen. Mit Glück lässt sich nicht handeln, selbst wenn eine Glücksfee einem bis zum Schluss das Gegenteil ins Ohr flüstert. Und überhaupt: "Am schönsten ist es, das Glück mit anderen zu teilen." Mit dieser – zuversichtlich stimmenden – Botschaft im Ohr gingen die Zuschauer nach Hause. Herr Vogel hatte ihnen gezeigt, wie sie trotz aller aktuellen und überstandenen Erschwernisse der Corona-Zeit nicht wirklich glücklich werden, und wie leicht Glück manchmal zu haben ist.

Theaterstück wirkt nach: Pfarrer Stefan Mai hat angekündigt, in den Erntedenk-Gottesdiensten in der Gerolzhöfer Stadtpfarrkirche am Samstag, 2. Oktober, 18 Uhr und am Sonntag, 3. Oktober, 10 Uhr, die vier Stationen von Herrn Vogel auf der Suche nach dem Glück auch mit Hilfe von Schauspielern thematisch aufzugreifen. Dies ersetzt den herkömmlichen Erntedank-Schmuck in der Kirche.