Das Jahr 2023 ist aus Gewerkschaftssicht geprägt von zahlreichen Tarifkonflikten: bei der Bahn, im Handel mit Edeka im Zentrallager in Gochsheim, mit den Kommunen. Bernhard Stiedl, bayerischer DGB-Vorsitzender, hat eine klare Haltung pro Arbeitnehmerrechte. Er wirbt für Solidarität und Zusammenhalt und fordert eine gerechte Bezahlung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zeiten hoher Inflation.
Es gibt seit Monaten in verschiedenen Branchen Tarifkonflikte und Streiks, man verliert beinahe den Überblick.
Bernhard Stiedl (schmunzelt): Ich auch.
Was ist der wichtigste Konflikt?
Stiedl: Wichtig sind sie alle. Mit dem Schlichterspruch für EVG und Deutsche Bahn ist man dort auf einem guten Weg. Weniger weit ist man bei den aktuellen Tarifverhandlungen im bayerischen Handel. Und im Herbst startet noch die Tarifrunde für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der Länder. Die großen Blöcke aus dem Frühjahr sind aber abgeschlossen.
Thema Edeka: Wie beurteilen Sie den Streik im Großlager in Gochsheim und das Verhalten des Arbeitgebers?
Stiedl: Das ist schlicht unverschämt und ich frage mich, wie es im 21. Jahrhundert möglich ist, dass dieser Arbeitgeber so mit seinen Beschäftigten umgeht. Wir wissen, dass während der Corona-Pandemie der Lebensmitteleinzelhandel schöne Gewinne eingefahren hat. Wir wollen unseren gerechten Anteil. Wir würden diese Forderungen nicht stellen, wenn der Handel keine Gewinne machen würde. Mich stört, dass es kaum noch Solidarität gibt in diesem Land und auch keinen Zusammenhalt. Ich wünsche mir eine solidarische Gesellschaft, in der man den Schwächeren Unterstützung gibt.

Wie ist der Konflikt bei Edeka lösbar?
Stiedl: Entweder es kommt zu einem Großkonflikt oder die Arbeitgeber kommen zur Vernunft. Was mich ärgert ist, dass Streikbrecher auch noch Sonderzahlungen bekommen. Das erinnert an dunkelste Zeiten, wenn man Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer derart unter Druck setzt.

Wie kann die Gewerkschaft auch bei Edeka für mehr Mitglieder werben?
Stiedl: Wir können nur dafür werben, wofür Gewerkschaften stehen: Solidarität und Zusammenhalt. Nur wenn wir solidarisch zusammenstehen, können wir auch gemeinsam etwas durchsetzen. Ist das nicht der Fall, machen wir es auch dem Arbeitgeber leicht. Am Ende werden die Arbeitgeber gar keine Fachkräfte mehr bekommen. Man sieht das in der Gastronomie, wo nur noch 20 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben arbeiten. Das wird sich auch im Handel so ergeben. Wer seine Beschäftigten nicht vernünftig bezahlt und keine guten Arbeitsbedingungen bietet, der wird auch keine Fachkräfte mehr finden.

Wir werden es uns als Gewerkschaften nicht mehr gefallen lassen, zurückstecken zu müssen. Die Arbeitgeber müssen verstehen, dass sie eine hohe Verantwortung haben und durch solche Maßnahmen wie bei Edeka die soziale Marktwirtschaft zerstören. Die Arbeitskraft hat ihren Wert und muss vernünftig bezahlt werden. Wir müssen wegkommen von dieser „Geiz-ist-geil“-Mentalität in diesem Land. Wäre nicht jeder bereit, im Supermarkt etwas mehr zu zahlen, wenn man wüsste, dass die Beschäftigten einen vernünftigen Lohn bekommen? Jeder Unternehmer denkt zunächst für sich betriebswirtschaftlich und leider nicht auch volkswirtschaftlich. Das ist ein Teufelskreis, der sich nach unten dreht. Wir leben aber nicht, um zu arbeiten – wir arbeiten, um zu leben.
Entweder es kommt zu einem Großkonflikt oder die Arbeitgeber kommen zur Vernunft.
Bernhard Stiedl, bayerischer DGB-Chef
Wie beurteilen Sie das Angebot bei SKF, dass aufgrund der Auftragsflaute bei der Windkraft Mitarbeitende in dem Bereich mit 63 in Rente gehen und entsprechende Abschläge durch die Firma ausgeglichen werden?
Stiedl: Wenn wir die Energiewende wollen, dann muss man als Staat die Rahmenbedingungen schaffen und das nicht dem freien Markt überlassen. Warum kann die Bundesrepublik nicht dafür sorgen, dass etwa Förderprogramme für erneuerbare Energien davon abhängen, dass die entsprechenden Arbeitsplätze in Deutschland entstehen? Ich bin selbst in dem einen oder anderen Aufsichtsrat. Wenn Manager dann hergehen und sagen, „wir wollen eine zweistellige Marge“, frage ich immer: Warum? Das können sie nicht beantworten, dann heißt es : „Weil es die üblichen Kennziffern sind.“
Reichen stattdessen nicht zwei, drei Prozent Gewinnmarge, wenn dafür die Beschäftigten gut verdienen und die Wirtschaft läuft? Wenn in neue Produkte investiert wird, sind diese Margen meiner Meinung nach ja in Ordnung. Aber wenn man zehn, 15 Prozent Marge will, weiß ich doch, dass davon vor allem die Aktionäre profitieren. Wir wirtschaften und arbeiten doch, damit es den Menschen besser geht und nicht den Aktionären. Da muss Einiges wieder ins richtige Maß gerückt werden.

Angesichts der Höhe der Gehaltsforderungen durch die Gewerkschaften: Ist eine der Ursachen für den Fachkräftemangel, dass in Deutschland zu schlecht bezahlt wird?
Stiedl: Ganz klar, das sehen wir ja im internationalen Vergleich. Die Forderungen der Gewerkschaften sind aufgrund der hohen Inflation auch so hoch gewesen. Während der Corona-Pandemie haben wir uns als Gewerkschaften sehr zurückgehalten. Im Nachhinein hat sich das gerächt. Zum Beispiel im Bereich der Gastronomie haben die Arbeitgeber ihre Beschäftigten nicht gehalten. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir keinen breiten Fachkräftemangel haben, sondern Engpassberufe, wie in der Pflege oder eben der Gastronomie. Allen voran in der Pflege sind die Arbeitsbedingungen und die Löhne schlecht – gerade im Vergleich zur Industrie. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden, damit mehr Beschäftigte in den Pflegeberuf gehen.
Gesundheit und Pflege darf man nicht unter betriebswirtschaftlichen Kennziffern sehen.
Bernhard Stiedl, bayerischer DGB-Chef
Wer ist gefragt, die Rahmenbedingungen nachhaltig zu ändern?
Stiedl: Die öffentliche Hand, ganz klar. Es muss mehr Geld ins System. Das Problem begann vor 20, 30 Jahren mit der Privatisierungswelle. Es wurde gesagt, Krankenhäuser und Pflegeheime müssen stärker privatisiert werden, dann wird es kostengünstiger und besser. Das Gegenteil ist eingetreten. Das war ein Irrweg, Gesundheit und Pflege darf man nicht unter betriebswirtschaftlichen Kennziffern sehen. Wir müssen die grundsätzliche Frage stellen, was die menschliche Arbeitskraft wert ist. Die öffentliche Hand muss einfach mehr Geld über das Steuersystem generieren. Während der Corona-Pandemie ist die Zahl der Millionäre und Milliardäre in Deutschland gestiegen, die Effektivlöhne der Beschäftigten sind aber um vier Prozent gesunken. Da läuft doch in diesem Land etwas schief. Wir müssen wieder lauter die Frage stellen, wer seinen gerechten Beitrag für das Gemeinwesen leistet und wer nicht.
Thema öffentliche Hand: Ist es Jammern auf hohem Niveau, wenn die Kommunen darauf hinweisen, dass sie sich das kaum leisten können?
Stiedl: Ich kann das Jammern nicht mehr hören, weder der Kommunen noch der Arbeitgeber. Am Ende eines Jahres hört man immer, dass die Unternehmen hohe Gewinne eingefahren haben. Wo landen denn diese Gewinne? Wir haben festgestellt, dass zu der hohen Inflation zu einem großen Teil Unternehmen der Energieversorgung beigetragen haben. Shell hat im vergangenen Jahr einen Rekordgewinn von 36 Milliarden Euro erzielt. Warum schöpft man das nicht ab mit einer Übergewinnsteuer, zumal die EU die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen hat? Wir als Gewerkschaften werden uns jedenfalls auch weiterhin mit aller Kraft dafür einsetzen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren gerechten Teil vom Kuchen abbekommen.