Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Schweinfurt
Icon Pfeil nach unten
Landkreis Schweinfurt
Icon Pfeil nach unten

Lülsfeld: Ketamin und Kuschelgruppe: Familie und Freunde erheben schwere Vorwürfe nach Tod eines 56-Jährigen bei "Go&Change"

Lülsfeld

Ketamin und Kuschelgruppe: Familie und Freunde erheben schwere Vorwürfe nach Tod eines 56-Jährigen bei "Go&Change"

    • |
    • |
    Der Schweizer Musiker starb im ehemaligen Kloster in Lülsfeld.
    Der Schweizer Musiker starb im ehemaligen Kloster in Lülsfeld. Foto: Silvia Gralla

    Roland war 56 Jahre alt. Am 15. Oktober 2022 starb der Musiker aus der Schweiz im ehemaligen Kloster "Maria Schnee" in Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt), das die Gemeinschaft "Go&Change" bewohnt. "Vermutlich an einem Drogencocktail", sagte Rolands Bruder Stefan Christen noch vor Kurzem im Gespräch mit der Redaktion. Tatsächlich fanden Rechtsmediziner nun Ecstasy und das Narkosemittel Ketamin in Rolands Blut und machen Letzteres für seinen Tod mitverantwortlich.

    Er "gehe mal davon aus, dass Sie hier lügen", wirft "Go&Change"-Geschäftsführer Felix Krolle dieser Redaktion vor, als diese die Gemeinschaft um eine Stellungnahme zur Aussage der Rechtsmedizin bittet. Für Rolands Familie ist das Ergebnis der Untersuchung, wonach "die Intoxikation mit Ketamin bei verminderter Belastbarkeit des Organismus" zum Tod geführt hat, dagegen umso schlüssiger.

    Bruder des Toten: "Go&Change" hat Familie zerstört

    Rückblick: Die ersten Recherchen dieser Redaktion zu "Go&Change" begannen 2020. In vielen Gesprächen mit Aussteigerinnen und Aussteigern, mit nahen Verwandten und Freunden kristallisiert sich heraus: Auslöser für viele tragische Ereignisse in der Gemeinschaft seien Psychodruck, dazu Willkür, Demütigungen, Drogen und sexualisierte Gewalt. "Go&Change", das sich laut eigener Aussage Liebe und Heilung verschrieben hat, bestritt die Vorwürfe immer wieder.

    Unabhängig voneinander berichteten Angehörige von "Go&Change"-Mitgliedern auch davon, dass ihre erwachsenen Kinder den Kontakt zu ihnen abbrechen oder bei wenigen Besuchen wie fremdgesteuert wirken. Ehemalige Gemeinschaftsmitglieder erzählen, dass sie oft nur mit Unterstützung beziehungsweise therapeutischer Hilfe den Ausstieg schaffen.

    Auch im Fall von Roland wiederholen sich solche Beschreibungen. Stefan Christen erzählt, wie sein Bruder mit seiner Familie "in die Fänge dieser Sekte" geraten ist. Dass sich sein Bruder nach über 30 Jahren "glücklicher Ehe" plötzlich von seiner Frau getrennt habe. "Go&Change" habe seine Familie zerstört, sagt er voller Trauer und Fassungslosigkeit.

    "Go&Change" zweifelt an Gefahr durch Ketamin

    Laut Stefan Christen ist Roland während einer "Prozess-Drogen-Party" zu Tode gekommen. Beschreibungen zufolge können solche Treffen mehrere Tage und Nächte dauern. Zur Bewusstseinserweiterung würden Drogen konsumiert, es werde getanzt und es gebe sogenannte Prozesse – intensive Betrachtungen der Persönlichkeit einzelner Personen.

    Ob es solche Partys gibt, ob Roland bei einer solchen Veranstaltung gestorben ist, dazu sagt "Go&Change"-Sprecher Krolle nichts. Stattdessen bezweifelt er, dass Ketamin für den Tod verantwortlich sein kann. "Eine kurze Google-Suche" zeige, "dass Ketamin erst ab dem 20-fachen der durchschnittlichen Dosis, mit der man jemanden in Narkose(!) versetzt, tödlich ist", behauptet er.

    Narkosemittel und Partydroge: Zwei Professoren erklären, wie Ketamin wirkt

    "Ketamin wird als Narkosemittel und Schmerzmedikament eingesetzt", erklärt Prof. Patrick Meybohm, Chef der Anästhesiologie der Uniklinik Würzburg. Als Nebenwirkungen zählt er "Halluzinationen, Wahnvorstellungen oder Alpträume" auf. Dass Ketamin als Medikament außerhalb medizinischer Einrichtungen zum Einsatz kommt, kann er sich nur schwer vorstellen. "Ketamin gibt es in der Regel als Injektionslösung in Ampullen. Daher fallen mir eigentlich keine Konstellationen ein, außer seit kurzem als Nasenspray zur Behandlung einer Depression."

    Ohne den Toten untersucht zu haben oder den Obduktionsbericht zu kennen, wollen von der Redaktion befragte Mediziner den Fall nicht bewerten. Der aus Würzburg stammende Wiener Professor für Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin, Hans Georg Kress, erklärt aber mit Blick auf die Kombination aus dem Ecstasy-Wirkstoff MDMA und Ketamin: "Die Mischung wird nicht nur als Partydroge gerne missbraucht, sie ist bei Bluthochdruck mit vorgeschädigtem Herzen auch ausgesprochen ungut." Beide Substanzen stimulierten den Kreislauf und könnten in Kombination – zum Beispiel bei Asthmatikern – lebensbedrohlich zusammenwirken.

    Schon lange wird Ketamin als Partydroge unter dem Namen "Special K" missbraucht. Dann werde es "meist in Form eines weißen, kristallinen Pulvers gesnieft", informiert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Die Wirkung: Mit Ketamin könne man sich in "einen psychoseähnlichen Zustand mit veränderter Raum-, Körper- und Zeitwahrnehmung" bringen, erklärt Kress, "gleichzeitig steigen Puls und Blutdruck".

    Unterdessen ist Rolands Familie davon überzeugt, dass der 56-Jährige seit seinem Einzug bei "Go&Change" regelmäßig Drogen konsumiert habe.

    Was ist in den Wochen vor dem 15. Oktober geschehen?

    "Morgenlicht-Treffen" im ehemaligen Kloster in Lülsfeld 

    "Mein Bruder und seine Frau waren schon immer an alternativen Lebensweisen interessiert und an Möglichkeiten, die Welt zum Positiven hin zu verändern", sagt Stefan Christen. Als sich in der Schweiz um das Jahr 2020 eine Gemeinschaft namens "Terra Nova" gegründet hatte, seien die beiden oft dort gewesen, hätten stundenlang über alle möglichen Dinge offen diskutiert. "Meinem Bruder gefiel das sehr." Dann seien dort erstmals Mitglieder von "Go&Change" aufgetaucht, so Christen.

    Zuerst sei angedacht gewesen, erinnert sich ein ehemaliges "Go&Change"-Mitglied, das anonym bleiben möchte, dass in der Schweiz eine Dependance der Lülsfelder Gemeinschaft aufgebaut wird. Doch schon bald – ab Ende 2021 – gingen die Wege umgekehrt, nach Unterfranken: In Lülsfeld trafen sich die Schweizer, aber auch Mitglieder anderer Gemeinschaften zu regelmäßigen "Morgenlicht-Treffen" zum Austausch und zu "Prozessen". Einige seien ganz in die 800-Seelen-Gemeinde im Landkreis Schweinfurt gezogen.

    undefined

    Roland und seine Frau wohnten zunächst weiterhin in der Schweiz, fuhren aber regelmäßig "ins Kloster". Auch ihre beiden minderjährigen Töchter nahmen sie zu den Treffen mit. Es kam, wie es schon oft in Gesprächen mit dieser Redaktion berichtet wurde: Nach anfänglichem "Love Bombing", einer Überschüttung von Liebenswürdigkeiten, drehte sich das Blatt. Das Paar wurde getrennt.

    Rauswurf der Ehefrau: Sie soll angeblich ihrer Familie nicht gut tun

    "Meine Schwägerin wurde rausgeworfen – zuerst von 'Go&Change' aus Lülsfeld, dann von meinem Bruder aus dem gemeinsamen Wohnhaus in der Schweiz", erzählt Stefan Christen. Die Begründung von "Go&Change" habe gelautet: "Sie sei gewalttätig, tue ihrer Familie nicht gut und solle sich von ihr fernhalten." Felix Krolle bestätigt die Schilderung. Roland habe letztlich "den Entschluss gefasst, mit seinen Kindern zu uns ins Kloster zu ziehen, um in Liebe die Gewalterfahrungen aufzuarbeiten".

    Er habe seinen Bruder kaum wiedererkannt, wie fremdgesteuert habe er auf ihn gewirkt, sagt Stefan Christen. Früher habe er ihm bei "gemeinsamen Wanderungen oft erzählt, dass seine Frau die Liebe seines Lebens ist", sei immer ein liebevoller Familienmensch gewesen. "Nun ließ er nichts auf 'Go&Change' kommen. Aber viel erzählen, wie es dort zuging, wollte er mir auch nicht."

    Roland prahlt mit Drogenkonsum bei Auftritten in der Schweiz

    Ähnlich ging es Rolands Musikerfreunden. "Wir sind viele Jahre, bestimmt über tausendmal zusammen aufgetreten", sagen sie. Sie wunderten sich, dass er so oft nach Deutschland fuhr. Er habe aber nie einen seiner Auftritte versäumt. Stolz habe er erzählt, dass er bereits 36 Stunden wach sei, direkt von einer Party aus dem früheren Kloster komme und damit geprahlt, dass er Drogen nehme. Der letzte gemeinsame Auftritt sei zwei Wochen vor seinem plötzlichen Tod gewesen.

    "Aufgedreht war er und hat gespielt wie ein Gott, genial", sagt ein Musikerfreund. Danach sei er oft wieder direkt nach Lülsfeld gefahren. Einer Freundin fiel auf, Roland habe ihr gegenüber plötzlich frauenfeindliche Anmerkungen geäußert. Zudem habe er sich "politisch um 180 Grad gedreht – von links nach rechts" – und Verschwörungstheorien geäußert.

    Bester Freund sagt: Hauptthema von Roland sei Sex mit jungen Frauen gewesen

    Ein anderer Musiker aus der Schweiz, Reto Giacopuzzi, war seit fast 40 Jahren mit Roland eng befreundet. "So lange haben wir gemeinsam Musik gemacht." Sie hätten denselben Humor gehabt, viele Erlebnisse geteilt. "Er war ein kritischer, aufgeschlossener, intelligenter Mann und genialer Bassist." Über die Dinge, bei denen sie nicht einer Meinung waren, hätten sie offen diskutieren können.

    Zuletzt jedoch nicht mehr. "Er hatte sich total verändert, ich bin überhaupt nicht mehr an ihn herangekommen", sagt Giacopuzzi. "Es ist mir unverständlich, wie Roland in diese Sekte hineingeraten konnte."

    Seit Roland ständig in Lülsfeld war, habe er wieder stark geraucht, von seinem Drogenkonsum erzählt, von tagelangen Partys und "therapeutischem Schlafentzug". Hauptthema ist laut Giacopuzzi jedoch der Sex mit jungen Frauen gewesen. Zugleich habe Roland einen Frauenhass entwickelt, vor allem seiner Ehefrau gegenüber. Sogar zu seiner Mutter habe er den Kontakt abgebrochen. "Go&Change" habe ihm die Augen geöffnet, habe er gesagt. Den Anführer der Gemeinschaft habe er "verehrt wie einen Gott".

    Ehemalige berichten von Schlafentzug, Beleidigungen, Bloßstellungen 

    Bei den sogenannten Partys entstehe ein Gruppenzwang, berichten dieser Redaktion viele Menschen, die "Go&Change" den Rücken gekehrt haben: Es werde erwartet, dass alle Drogen nehmen. Zur Öffnung und Bewusstseinserweiterung. Vor allem LSD und MDMA seien die Mittel der Wahl. Aber auch von Kokain ist die Rede.

    Wer sich geweigert habe, sei zum "Prozess" gerufen worden, so die Informanten. Darunter sei eine Art heißer Stuhl für eine Person zu verstehen, andere vergleichen ihn mit einem Tribunal, bei dem die Schattenseiten der Persönlichkeit analysiert werden.

    Fragen zu dieser sogenannten Prozessarbeit und zum Drogenkonsum beantwortet "Go&Change" nicht. Ehemalige Gemeinschaftsmitglieder berichten weiter: Nach einem "Prozess", der viele Stunden dauern konnte, sei die Party weitergegangen – oft tagelang. Schlafentzug habe mit dazu geführt, dass die Menschen immer fahriger, ängstlicher und damit angreifbarer wurden. Und häufig seien einzelne in Prozessen bloßgestellt, beleidigt und massiv abgewertet worden.

    Staatsanwalt: Schweizer soll sich bei seinem Tod in einer Kuschelgruppe befunden haben

    Ist Roland tatsächlich während einer solchen Veranstaltung ums Leben gekommen? Der Schweinfurter Oberstaatsanwalt Reinhold Emmert gibt auf Nachfrage der Redaktion Einblicke in die Ermittlungen. Laut bisherigen Erkenntnissen seien Schilderungen, die die Familie gehört habe, korrekt, wonach sich Roland in einer sogenannten Kuschelgruppe befunden habe, als plötzlich seine Hände kalt geworden seien. Um was es sich dabei handelt, erklärt "Go&Change" nicht.

    Umgehend soll jemand dann mit einer Reanimation begonnen haben. Sanitäter, die ins ehemalige Kloster gerufen wurden, konnten das Leben von Roland aber nicht mehr retten. Beim Eintreffen der Polizei sei der 56-Jährige bereits tot gewesen, erklärt Polizeisprecher Kuhn. Anhaltspunkte für eine Fremd- oder Gewalteinwirkung hätte es nicht gegeben. "Go&Change" beantwortet keine der Fragen zum Abend, an dem Roland gestorben ist.

    "Seine Töchter und seine Frau waren nicht an seiner Seite, als er starb", sagt Stefan Christen. Die Ehefrau sei am nächsten Morgen aus der Schweiz angereist. Nach der Obduktion kehrte Roland in die Schweiz zurück – eingeäschert, in einer Urne.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden