Nein, Interesse an einer Personaldebatte hat auch nach dem Auftritt von Martin Schulz bei der SPD in Schweinfurt kein Genosse. Es reicht schon, dass Kevin Kühnert ihnen mit seiner Kapitalismus-Kritik den Europawahlkampf verhagelt. Aber die Sehnsucht nach einem, der so mitreißend reden kann wie Schulz, die ist spürbar unter den knapp 200 SPD-Anhängern am Montagabend in der Es-Ka-Ge-Halle. Er wünsche sich, sagt Bezirksvize Volkmar Halbleib zur Verabschiedung des Ex-Kanzlerkandidaten, dass Martin Schulz auch künftig "eine zentrale, tragende Rolle in der Sozialdemokratie einnimmt". Eine Kampfansage an die umstrittene Parteichefin Andrea Nahles ist das (noch) nicht.
Ziemlich genau zwei Jahre ist es her, da war Schulz zuletzt in Schweinfurt. Beim SPD-Landesparteitag ließ sich der Merkel-Herausforderer feiern, auch wenn der viel beschworene "Schulz-Zug" damals schon, nach der SPD-Niederlage in Nordrhein-Westfalen, mit Verspätung unterwegs war. Seitdem ist viel passiert. Als einfacher Bundestagsabgeordneter ist der 63-Jährige diesmal in Unterfranken zu Gast, um seine frühere Europaabgeordneten-Kollegin Kerstin Westphal im Wahlkampf zu unterstützen. Wobei das Bemühen der Schweinfurterin, trotz Listenplatz 23 wiedergewählt zu werden, ähnlich aussichtsreich scheint wie Schulz' Run aufs Kanzleramt anno 2017.
Schulz' Rede strotzt vor Leidenschaft
Europa, das ist und bleibt das Leib- und Magen-Thema des früheren Präsidenten des Europaparlaments (2012 - 2017). Seine 55-minütige Rede strotzt nur so vor Leidenschaft für das Projekt, das seiner Generation Frieden, Freiheit und Wohlstand beschert hat – nach über 60 Millionen Kriegs- und Terror-Toten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
"Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein." Schulz zitiert SPD-Ikone Willy Brandt für seine Vorstellung des Miteinanders. In Europa müssten sich die Menschen aufeinander verlassen können, sich gegenseitig respektieren und füreinander einstehen, egal welche Hautfarbe, Religion, Nationalität oder soziale Herkunft sie haben. "Gute Nachbarn schließt aus, dass es Herren und Knechte gibt", ruft Schulz, "kein Deutschland zuerst, kein Frankreich zuerst oder Italien zuerst", wie es Gauland, Le Pen oder Salvini ("ein zynischer Brutalo") propagierten. Diese Nationalisten wollten "den Laden" von innen zerstören. Wozu es führe, wenn internationale Zusammenarbeit aufgekündigt werde, zeige Trumps "America-First-Politik". Weltwirtschaftsgipfel blieben ohne Vereinbarungen, der Kampf wider den Klimawandel sei erlahmt.
"Die Europäische Union ist nicht perfekt"
Ein ungeeintes Europa werde zum "Spielball der Machtinteressen von Chinesen und Amerikanern", warnt der SPD-Politiker. Emanuel Macron habe dies erkannt. Er bedauere, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Europa-Initiativen des französischen Präsidenten nicht offensiv unterstütze, beispielsweise die Idee, einen europäischen Finanzminister zu etablieren. Nur ein solcher werde helfen, einen "ruinösen Steuersenkungswettbewerb" zu verhindern und internationale Großkonzerne wie Google, Apple und Facebook in die Steuerpflicht zu nehmen.
"Die Europäische Union ist ganz sicher nicht perfekt", räumt Schulz ein. Über die Wege, sie demokratischer zu machen, sie sozialer zu gestalten oder zu entbürokratisieren, müssten die Parteien streiten. Bei der Wahl am 26. Mai aber gelte es zunächst, Europa als demokratisches "Schutzprojekt" für künftige Generationen zu sichern.