Dieser Moment, als Marianne nachts schlaflos am Fenster ihres Schlafzimmers stand. Als sie das Gefühl hatte, lebendig begraben zu sein und keine Luft mehr zu bekommen. Ihre Gedanken rasten. Bis zu einem Punkt, an dem sie sich entscheiden musste. "Bin ich bereit für die Auseinandersetzung mit mir selbst oder springe ich?" Irgendwas muss es doch in dieser Dunkelheit geben, sagte sie sich immer und immer wieder. Sie entschloss sich dazu, nicht zu springen und stattdessen den Kampf mit sich aufzunehmen – auch aus Liebe zu ihrer Familie, wie sie heute erzählt.
Eigentlich führt Marianne ein ganz normales Leben. Ein Haus im Grünen, eine glückliche Ehe, zwei gesunde Kinder und ein erfüllender Job als Lehrerin in einer Schweinfurter Schule. Doch immer wieder durchlebt sie Phasen, wo alles in ihrer Welt um sie herum zusammenbrechen zu droht.
Marianne, die in Wahrheit eigentlich anders heißt, ist 54 Jahre alt. Seit ihrem 25. Lebensjahr leidet sie unter Depressionen und Burn-out. "Meine erste Therapiesitzung hatte ich mit Mitte zwanzig, als ich im Referendariat war", erzählt sie.

Die Lehrerin stammt von einem kleinen landwirtschaftlichen Hof im Schweinfurter Umland. Während andere Kinder den Sommer über ins Freibad gehen, hilft sie zusammen mit ihren Geschwistern bei der Ernte mit. Dadurch habe sie schon früh gelernt, in schwierigen Situation nicht nachzulassen.
"Ich bin jemand, der sich durchbeißt", sagt sie über sich. Eine Eigenschaft, die ihr zwar dabei helfe, kurzfristige Herausforderungen anzunehmen, im Gegenzug aber auch einiges abverlangt. "Gefühle zu unterdrücken und sich ständig einzureden, dass es schlimmere Probleme auf der Welt gibt, helfen einem nicht weiter. Es setzt dich nur weiter unter Druck."
Lehrkräfte besonders anfällig für Depressionen
Besonders bewusst wird ihr das an mehreren Stellen ihres beruflichen Lebens. Gerade die Zeit während des Referendariates sei für junge Frauen äußerst anstrengend. Das erste Mal vor einer Klasse zu stehen, die ständige Beobachtung durch einen Prüfer. "Es ist ein wahnsinnig anstrengender, aber auch erfüllender Beruf", sagt sie. Doch auch nach dem Berufseinstieg lässt der Druck bei Marianne nicht nach. "In diesen 45 Minuten, wo man Unterricht hält, ist jeder Gedanke auf die Klasse fokussiert."

Lehrkräfte gelten als besonders anfällig für Burn-out, Depressionen und andere psychische Erkrankungen. Laut einer Statistik der Datenplattform Statista gaben im Herbst 2023 rund 60 Prozent aller darin befragten Schulleitungen in Deutschland an, dass die Zahl der langfristigen Ausfälle im eigenen Kollegium aufgrund von psychischen wie auch physische Erkrankungen zugenommen hat.
Viel Druck auch abseits der Schule
Auch Marianne leidet unter den hohen Anforderungen in der Schule. Neben dem Unterricht engagiert sich die 54-Jährige ihr ganzen Leben lang ehrenamtlich in Schularbeitsgemeinschaften und sozialen Einrichtungen. Zu Hause hilft ihr die Schwiegermutter bei der Erziehung der eigenen beiden Kinder und im Alltag mit der Familie. "Wir haben ein enges Verhältnis zueinander gepflegt." Plötzlich folgt ein Schock: Unerwartet früh stirbt die Schwiegermutter. Und Marianne fällt in ein tiefes Loch aus Trauer und Überforderung.

Immer öfter erlebt sie emotionale Zusammenbrüche – auch auf der Arbeit. "Ich habe viel geweint, bin viel in mich gegangen und habe viel mit meinem inneren Kritiker diskutiert." Besonders im Beruf leidet sie unter Komplexen und der eigenen Unzulänglichkeit.
"Es sind die inneren Kämpfe, die einem zu schaffen machen."
Marianne
"Es sind die inneren Kämpfe, die einem zu schaffen machen. Ich habe quasi Gerichtsverhandlungen und Therapiesitzungen mit mir selbst abgehalten, beim Fahrradfahren, beim Spazierengehen. Es gärt in einem, du bist zerrissen in dir, in einer Phase, wo du am liebsten alles hinschmeißt", erklärt sie über ihre Krankheit. Mehrmals, sagt sie, musste sie sogar ihren Unterricht unterbrechen, weil ihr die nötige Kraft dazu fehlte. "Viele verstehen das auch gar nicht. Wenn man seinen Gefühlen so ausgeliefert ist und einfach den Raum verlassen muss."
Psychotherapie leistet wichtigen Durchbruch
Schließlich entscheidet sie sich dafür, ärztliche Hilfe aufzusuchen. Zunächst bei der Hausärztin. Die erste Diagnose der Medizinerin: Burn-out. "Sie hat das sofort erkannt und mir eine Therapie empfohlen." Nach längerem Hin und Her bekommt Marianne einen Platz in einer Reha-Klinik in Oberfranken. "Das war das Beste, was mir in dem Augenblick passieren konnte." In der Therapie zusammen mit Gleichgesinnten habe Marianne vieles durchsprechen können. "Die Ansatzpunkte haben mir geholfen. Psychotherapie ist für mich eine andere Form der Beichte."

Auch Mariannes Tochter Anna ist überzeugt, dass die Therapie ihrer Mutter geholfen habe. Die 21-Jährige, die in echt ebenfalls anders heißt, lebt und studiert seit einigen Jahren in Würzburg. Auch wenn sie und ihre Mutter sich dadurch seltener sehen, sprechen die beiden viel über Depressionen.
"Ich hatte Ende letzten Semesters auch wieder eine Phase, in der es mir nicht gut ging. Dadurch, dass wir sehr offen miteinander reden, haben wir viel Verständnis für einander", sagt Anna. Auf sie habe die Krankheit ihrer Mutter mit der Zeit auch die prägende Wirkung entfaltet, mehr auf sich selbst und die eigenen Grenzen zu achten.

Heute, neun Jahre nach der Situation am Schlafzimmerfenster, gehe es ihr wieder besser, sagt Marianne. Die Krankheit besiegen konnte sie jedoch nicht. Kürzlich war sie wieder für einige Wochen wegen Erschöpfung krankgeschrieben. Und dennoch: Sie lerne, mit der Krankheit klarzukommen, so die 54-Jährige. "Ich habe mich durch vieles durchgekämpft. Und es werden mit Sicherheit neue Kämpfe folgen. Mittlerweile kann ich diese aber besser akzeptieren. Ich weiß, dass es weitergeht."
Mentale Gesundheit Immer mehr Menschen leiden unter psychischen Erkrankungen. Und weil immer mehr auch darüber sprechen, rückt das Thema weiter in die Öffentlichkeit. Diese Redaktion möchte einen Beitrag dazu leisten, das Bewusstsein zu stärken, zu enttabuisieren und mit Vorurteilen aufzuräumen. Hierfür sind wir noch auf der Suche nach Menschen aus der Region Main-Rhön, die ihre Geschichte mit uns und unseren Leserinnen und Lesern teilen möchten. Egal, ob Sie sich bereits auf einem Weg aus der Erkrankung befinden, noch mitten in der Herausforderung stecken oder als angehörige Person über ihre Erfahrungen sprechen möchten – jede Perspektive ist wichtig und kann anderen Menschen Mut machen und helfen, die eigene Erkrankung oder die Angehöriger besser zu verstehen. Wenn Sie Ihre Geschichte öffentlich machen wollen, melden Sie sich gerne hier oder per E-Mail an redaktion.schweinfurt@mainpost.de Quelle: SWT