Wer viel in Deutschlands Städten auf Geheimnissuche ist, findet sie immer wieder: lange, gerade Rillen, in der Mitte meist etwas dicker als oben und unten, in etwa einem Meter Höhe in öffentliche Sandsteingebäude gehauen, bevorzugt an Kirchen. Auch in Schweinfurt kann man diese Rillen entdecken: Sie zieren die Südseite der Kirche St. Johannis.
"Wir haben keine richtige Erklärung, was es mit diesen Rillen auf sich hat", sagt Gästeführerin Claudia Helldörfer. Kein Wunder, denn an dieser Frage haben sich schon zahlreiche Historiker und Forscher die Zähne ausgebissen.
Es gibt unzählige Quellen und Vermutungen, von abergläubischen bis hin zu technischen: Die Varianten, wie diese merkwürdigen Rillen entstanden sein könnten, reichen vom Teufel, der hier seine Krallen geschärft hätte, über die Vermutung, die Regenrinne sei undicht und der saure Regen habe im Laufe der Zeit die rillenartigen Einkerbungen hinterlassen, bis zur Ansicht, dass es sich um eine Geheimschrift der Bauleute handle.

In Schweinfurt werden vor allem zwei Varianten kolportiert: "Die eine ist die, dass die Ritter im Mittelalter hier ihre Waffen wetzten", sagt Claudia Helldörfer, "und das aus einem ganz bestimmten Grund: Eine Kirche war ein heiliges Gebäude, sie haben sich davon Heil und Segen erhofft." Doch so ganz logisch findet sie die Erklärung nicht: "Das würde die Degen eher stumpf machen als sie schärfen", hat sie sich von einem Hobbyfechter erklären lassen.
Ihre Lieblingsvariante ist jene, dass Frauen den Steinstaub im Mittelalter herauskratzten und als Arznei verwendeten. Steinpulver als Arznei also, doppelt wirksam, wenn er von einem heiligen Gebäude stammt. Eine weitere Erklärung, an die Helldörfer persönlich nicht glaubt, ist, dass Pilger die Zeichen hinterlassen hätten als Signal, dass man an diesem Ort mit offenen Armen empfangen werde.

Wurden die Rillen zum Feuermachen verwendet?
Der Autor Georg Steffel überlegt in seinem Aufsatz "Die rätselhaften Rillen": "Es muss einen konkreten Grund geben, weshalb die Rillen in der Nähe von Türen und Toren entstanden sind." Und noch dazu eben an Gebäuden, in denen viele Menschen zusammentrafen. "In allen Fällen wird das Bedürfnis bestanden haben, beim Verlassen der Gebäude nach Eintritt der Dunkelheit Licht zu machen, eine Laterne zu entzünden oder etwa eine Tabakspfeife in Brand zu setzen."
Steffel hat ausprobiert, ob sich an Sandstein Feuer schlagen lässt. Er schreibt: "Es bleibt festzustellen, dass es möglich ist, ohne besonderen Aufwand und mit Regelmäßigkeit Feuer aus Sandstein zu entfachen. Quod erat demonstrandum." Mit der Variante des Feuerschlagens hat sich auch Wetzrillenforscher Karl-Friederich Haas beschäftigt – in seinem Werk "Unerklärliche Zeichen im Stein" beleuchtet er das Thema von allen Seiten. Zum Beispiel zitiert er Richard Beitl, der schrieb: "Nach dem Ritus der Kirche wird am frühen Morgen des Karsamstags, nachdem zuvor in der Kirche alle Kerzen gelöscht sind, auf dem Kirchhofe das 'Osterfeuer' (ignis paschalis) oder 'Judasfeuer' entzündet. […] Nach alten Vorschriften soll der Brand durch Stahl und Stein erzeugt werden […]."

An anderer Stelle, so Haas, heiße es zu den Wetzrillen: "Kirchlichen Zwecken, etwa zur Entzündung des Osterfeuers, verdanken sie ihren Ursprung nicht. Denn nach kirchlicher Vorschrift soll das Osterfeuer am Carsamstage ex lapide (aus dem Stein) gewonnen werden, wozu gewiß der later (Ziegelstein) nicht zu rechnen ist."
Haas überlegt: "Wenn das 'Feuerschlagen' nur zum Erzeugen des Osterfeuers angewendet wurde, wurde dies dann einmal nur im Jahr gemacht und zudem nur an der (Pfarr-) Kirche bzw. in der Nähe einer Kirchentüre oder der Sakristei? Wie ist dann die häufig doch sehr hohe Zahl von Rillen zu erklären, vor allem, wenn für jede Rille hunderte oder gar tausende Kratzvorgänge erforderlich waren?"
Für die Menschen in früheren Zeiten waren es alltägliche Vorgänge
Haas hat sich auch Gedanken darüber gemacht, warum über die Wetzrillen nichts schriftlich überliefert ist. Hier bemüht er Walter Heinz und Werner Kaschel, die in dem Werk "Von Wetzrillen und Reibschälchen" schreiben: "Über die Entstehung der Wetzrillen und auch der sogenannten Reibschälchen in der Geschichte nachzuforschen, wäre gleichbedeutend mit der Frage, wie eigentlich ein Nagel in das Holz kommt. Es waren […] alltägliche Vorgänge und daher nicht erwähnenswert."
Das glaubt auch Haas. Er vermutet, ähnlich wie die von Claudia Helldörfer angesprochene Überlegung mit den Pilgern, dass sie von Bettlern als Zeichen dafür eingeritzt wurden, dass sich in diesem Haus ein freigiebiger Mann befindet – oder in dieser Kirche ein großzügiger Priester. Haas schreibt: "Fundstellen finden sich an Orten, wo für Bettler Almosen oder Spenden zu erwarten waren und wo die Möglichkeit bestand, Nachrichten für andere über ein erfolgversprechendes Betteln zu hinterlassen." Im 16. Jahrhundert sei die Zahl der Bettler stark angewachsen.
"Fundstellen finden sich an Orten, wo für Bettler Almosen oder Spenden zu erwarten waren und wo die Möglichkeit bestand, Nachrichten für andere über ein erfolgversprechendes Betteln zu hinterlassen."
Wetzrillenforscher Karl-Friederich Haas.
Und der Dreißigjährige Krieg "mit einem weiträumigen wirtschaftlichen Niedergang, mit der Zerstörung von Land, Stadt und Dorf, mit den vielen Toten aufgrund von Kriegseinwirkungen und insbesondere der Seuchen, aber auch allgemeinem Niedergang etwa hinsichtlich Disziplin der Soldateska [habe] zu einem riesigen Heer von Bedürftigen und Armen geführt."
Haas hat ein Zitat von einem Virchow gefunden, möglicherweise Rudolf Virchow (1821-1902), der um 1884 gewarnt habe, diese Rund- und Wetzmarken nicht zu unterschätzen, "da sie über Wanderungen und Verbreitung der Völker Aufschluß geben könnten". Und er hat festgestellt, dass sich viele Rillen an den einstigen Hauptverkehrsstraßen befänden. Viele Lösungsansätze also, die einen schlüssiger, die anderen eher unglaubwürdig. Claudia Helldörfer bilanziert: "Welche der vielen Varianten stimmt, werden wir wohl nie herausfinden. Aber faszinierend finde ich die Wetzrillen allemal."
So geht’s zu den Wetzrillen:
Die St.-Johannis-Kirche in Schweinfurt steht dominant auf dem Martin-Luther-Platz in der Stadtmitte nahe der Nordseite des Marktplatzes. Die Wetzrillen befinden sich auf der Südseite der Kirche.
Das Buch "Schweinfurter Geheimnisse" ist in Kooperation zwischen der Main-Post und dem Bast Medien Verlag erschienen. Das Buch (Hardcover) kostet 19,90 Euro, hat 192 Seiten und ist durchgehend bebildert. Erhältlich im Buchhandel oder direkt beim Verlag: bestellungen@bast-medien.de (versandkostenfrei). ISBN: 978-3-946581-81-9