Lange nicht mehr haben sich die Ereignisse in der Wirtschaft so überschlagen, wie im vergangenen Jahr. Schon im März hatte Unterfrankens größte Gewerkschaft, die IG Metall, in mehreren Mitteilungen auf beunruhigende Entwicklungen innerhalb einzelner Betriebe der Schweinfurter Großindustrie hingewiesen. Wenige Monate später sollte sie recht bekommen. Alle großen Unternehmen haben im Laufe des Jahres angekündigt, Stellen langfristig abbauen zu wollen, Verträge auslaufen zu lassen oder ganze Belegschaften in die Kurzarbeit zu schicken.
Das Wirtschaftsjahr 2024 in Schweinfurt war geprägt vom Bangen um die Zukunft der Industriearbeit in der Region. Doch trotz aller Herausforderungen gab es immer wieder Momente, in denen Tatendrang und Zuversicht überwogen. Sechs Gesichter der Krise und wie sie das Jahr erlebt haben.
1. Julia Spörl (21), Industriemechanikerin bei ZF: "Zu Beginn des Jahres fühlte ich mich von der Welle an Negativschlagzeilen aus der Großindustrie in Schweinfurt überwältigt"

"Zu Beginn des Jahres fühlte ich mich von der Welle an Negativschlagzeilen aus der Großindustrie in Schweinfurt überwältigt. Sie überschatteten unsere Gespräche auf den Gängen, in der Kantine oder nach Feierabend. Überall waren die Sorgen und Ängste der Menschen spürbar. Viele von uns belasten sie bis heute. Mit den Betriebsräten und großen Teilen der Belegschaften ist es uns gelungen, dem allen etwas entgegenzusetzen. Für mich strahlten die Menschenmassen auf den Straßen im vergangenen Jahr ein Gefühl von Entschlossenheit aus. Entschlossenheit, um für uns und unsere Arbeitsplätze in der Industrie zu kämpfen. Und auch wenn die Unsicherheit bleibt: Diese Gemeinschaft gibt mir Kraft für alle Herausforderungen, die mich und uns im nächsten Jahr erwarten."
2. Manfred Süß (57), Standortleiter von ZF Schweinfurt: "2024 war ein herausforderndes Jahr"

"2024 war ein herausforderndes Jahr. Wir mussten uns rückläufigen Umsätzen stellen, gleichzeitig wollten wir betriebsbedingte Kündigungen unbedingt vermeiden. Und das ist uns gelungen – dank eines Teams mit einem ausgezeichneten Zusammenhalt und vorbildlicher Anpassungsfähigkeit. Dafür danke ich jeder einzelnen Mitarbeiterin und jedem Mitarbeiter. Die Herausforderungen bleiben uns auch 2025 erhalten: Steigende Zölle auf chinesische Fahrzeuge, Margendruck durch die E-Mobilität und eine anhaltende Kaufzurückhaltung der Verbraucher lassen nur ein moderates Wachstum erwarten. Die Standortleitung will dennoch gemeinsam mit dem Team die Weichen für die Zukunft stellen und Schweinfurt wieder in die wirtschaftliche Erfolgsspur zurückbringen. Dafür werden wir unser Zielbild neu justieren, auf Innovationen bei Produkten, Prozessen und Technologien setzen. Wie gut wir das können, haben wir 2025 bereits 130 Jahre bewiesen."
3. Thomas Höhn (45), Erster Bevollmächtigter der IG Metall Schweinfurt: "In meiner Laufbahn als Gewerkschafter habe ich noch kein Jahr als so einschneidend empfunden"

"In meiner Laufbahn als Gewerkschafter habe ich noch kein Jahr als so einschneidend empfunden. Wir haben zwar bereits im Frühjahr aufgezeigt, dass der industrielle Kern in der Region in Gefahr ist. Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Entwicklungen haben mich aber überrascht. ZF, Schaeffler, SKF, Bosch Rexroth, Preh, Valeo – die Liste der Betriebe ist lang, die massiven Stellenabbau angekündigt oder durchgeführt haben. Gleichzeitig stimmt mich positiv, dass wir zusammen mit Betriebsräten und Beschäftigten konstruktiv an Lösungen arbeiten – wenn Arbeitgeber denn dazu bereit sind. Und das Beispiel von Bosch Rexroth in Schweinfurt, wo massiv investiert und Beschäftigung gesichert wird, zeigt: Es geht! 2025 werden wir den Druck hochhalten, um auch in anderen Betrieben zu langfristigen Lösungen zu kommen."
4. Thomas Stelzer (66), ehemaliger Leiter der Bundesagentur für Arbeit in Schweinfurt: "Die Krisenregion ist auch eine Chancenregion"

"Als ich vor 20 Jahren nach Schweinfurt gekommen bin, hatte die Stadt die lokale Krise der Wälzlager-Industrie Anfang der 1990er-Jahre bereits gut überstanden. Damals herrschten rund 17 Prozent Arbeitslosigkeit. Heute durchleben wir mehrere globale Krisen gleichzeitig. Viele Unternehmen befürchten einen Beschäftigungseinbruch, und die Nachfrage nach Kurzarbeitergeld hat sich erhöht. Dennoch finden wir mit 3,6 Prozent Arbeitslosigkeit und etwa 5000 offenen Stellen in der Region Main-Rhön einen stabilen Arbeitsmarkt vor. Außerdem wissen wir aus der Krise der 90er-Jahre: Schweinfurt kann Krise. Natürlich ist die Situation schwierig und es braucht Bereitschaft zur Veränderung, aber wir haben hier eine gute Zusammenarbeit von Arbeitnehmern, Arbeitgebern, der Handelskammer, den Gewerkschaften und der Hochschule. Die Leute in diesem Bereich wissen, was sie tun. Und es gibt einen Produktionskern, aus dem wirklich auch Innovationen entstehen können. Die Krisenregion ist auch eine Chancenregion."
5. Justin Rieck (22), Dateningenieur bei ZF und Vorsitzender der Jugend- und Auszubildendenvertretung Schweinfurt: "Junge Menschen in der Industrie brauchen Perspektive"

"Das letzte Jahr war so herausfordernd wie noch nie. Ich bin froh, dass die IG Metall mit ihren Kundgebungen zu 'SOS Kugellagerstadt' frühzeitig reagiert hat. Doch trotz der vielen schlechten Neuigkeiten gab es auch immer wieder Lichtblicke. Die Botschaft der Beschäftigten ist in vielen Teilen der Gesellschaft angekommen. Das Interesse und die Bereitschaft, für die Zukunft des Industriestandortes auf die Straße zu gehen, hat mich beeindruckt. Besonders stolz bin ich auf den Erfolg unseres Jugendwarnstreiks und die Ergebnisse der letzten Tarifverhandlungen. Ungeachtet dessen wird das Jahr 2025 wohl nicht einfacher. Die Jugend wird mit dem Rückgang von einem Großteil der Ausbildungsplätze in der Industrie konfrontiert werden. Ich bin daher besonders auf die Aktionen im nächstes Jahr gespannt. Denn eines ist klar: Junge Menschen in der Industrie brauchen Perspektive."
6. Jürgen Schenk (44), Betriebsratsvorsitzender bei Schaeffler in Schweinfurt: "Das Thema ist auch in der Politik angekommen"

"Wir kämpfen seit März mit einer schwächelnden Konjunktur und einer unsicheren Perspektive innerhalb vieler Unternehmen. Als am fünften November auch bei Schaeffler die Nachricht über den geplanten Stellenabbau kam, traf uns dies wie ein Schlag. Die Ankündigung der Bayerischen Staatsregierung, der Industrie in Schweinfurt mit Geldern unter die Arme zu greifen, zeigt, dass das Thema auch in der Politik angekommen ist. Dennoch hätte ich mir gewünscht, dass auch wir als handelnde Akteure mehr in diesen Prozess eingebunden worden wären. Jetzt müssen Taten folgen. Bei Schaeffler werden wir im neuen Jahr in Verhandlungen mit der Geschäftsleitung gehen, um zu prüfen, welche Produkte weiterhin in Schweinfurt gefertigt werden können, um möglichst viele Stellen zu erhalten. Hier freut mich zum Jahresende besonders, dass wir alle unsere Auszubildenden, die im Februar auslernen, übernehmen werden."