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WERNECK: Suche nach den ermordeten Patienten

WERNECK

Suche nach den ermordeten Patienten

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    Thomas Schmelterim Archiv desKrankenhausesim Schloss Werneck.FOTO: ANAND ANDERS
    Thomas Schmelterim Archiv desKrankenhausesim Schloss Werneck.FOTO: ANAND ANDERS

    Unbek. Anst. – immer wieder tauchen ab dem Jahr 1940 in den dicken alten Kladden diese Abkürzungen auf. Immer in derselben leicht lesbaren, feinen Handschrift. Wer die Buchstaben mit dünner Feder hingeschrieben hat, ist nicht bekannt. Es ist jedoch zu vermuten, dass die Person gewusst hat, was sie protokolliert. „Unbek. Anst.“ steht für „Unbekannte Anstalt“, steht für Mord.

    Thomas Schmelter, Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Neurologie, hat die Aufnahmebücher aus dem Archiv in sein Büro in Werneck geholt. Die Einrichtung, in der er seit 30 Jahren arbeitet, hieß früher Heil- und Pflegeanstalt. Heute ist es das Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Schloss Werneck.

    Die Abkürzung „unbek. Anst.“ in den Aufnahmebüchern der Heil- und Pflegeanstalt Werneck aus dem Jahr 1940 steht für „unbekannte Anstalt“. Sie war jedoch bekannt: Es war die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein.
    Die Abkürzung „unbek. Anst.“ in den Aufnahmebüchern der Heil- und Pflegeanstalt Werneck aus dem Jahr 1940 steht für „unbekannte Anstalt“. Sie war jedoch bekannt: Es war die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Foto: Foto: anand Anders

    Thomas Schmelter interessiert sich seit vielen Jahren für die Geschichte des Hauses. „Lange war man der Meinung, dass den Patienten nichts passiert sei“, erzählt der Psychiater und meint damit, dass sie keine Opfer der NS-„Euthanasie“ sind, weil sie nach der Räumung der Wernecker Anstalt 1940 nach Lohr verlegt wurden. „Das hat alle beruhigt.“ Doch dann schaute er genauer nach.

    Mord als „Gnadentod“ verharmlost

    „Unbek. Anst.“ ist nicht nur eine Abkürzung, sondern auch eine Lüge. Denn die Anstalt war Eingeweihten sehr wohl bekannt, sagt Schmelter. Es war die Anstalt Sonnenstein bei Pirna in Sachsen. Dort wurden Patienten aus Werneck unmittelbar nach ihrer Ankunft vergast und ihr Mord im inneren Zirkel der Nazis als „Gnadentod“ verharmlost.

    Blick in eines der Aufnahmebücher der Heil- und Pflegeanstalt Werneck aus dem Jahr 1940. Bei einigen Patienten steht die Abkürzung „Unbek. Anst.“.
    Blick in eines der Aufnahmebücher der Heil- und Pflegeanstalt Werneck aus dem Jahr 1940. Bei einigen Patienten steht die Abkürzung „Unbek. Anst.“. Foto: Foto: Anand Anders

    „Warum machst du das, ist es noch sinnvoll, in der Vergangenheit zu rühren?“ Diese Fragen bewegen Thomas Schmelter. Auslöser war für Schmelter 1990 ein Seminar über Psychiatrie im Nationalsozialismus. „Es half mir, meine eigene ärztliche Haltung zu reflektieren und hat mich vielleicht doch etwas vor Überheblichkeit bewahrt“, so Schmelter, „und vor der Aussage: Das hätte dir nie passieren können.“

    „Wie verhalten wir Ärzte uns heute?“

    Dazu gehört für ihn auch die Überlegung: „Wie konnten sich meine fachlichen Vorgänger so verhalten – warum waren Psychiater bereit, sich chronisch Kranken auf diese Art und Weise zu entledigen?“ Und: Wie verhalten wir Ärzte uns heute?“ Schmelter ist sich bewusst: „Im Namen der Wissenschaft Mitmenschen zum Objekt zu machen und ökonomisch zu bewerten, wie dies in der Nazizeit in extremer Weise geschah, diese Gefahr besteht heute auch.“

    Für den Arzt ist also auch Blick auf die gegenwärtigen ethischen Fragestellungen in der Medizin wichtig. Sie reichen vom Rechtfertigungsdruck für Eltern, die sich bewusst für ein behindertes Kind entscheiden, bis zur Frage: „Wie wollen wir sterben?“

    Thomas Schmelter, Oberarzt am Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Schloss Werneck, am Mahnmal für die ermordeten Patienten im Schlosspark.
    Thomas Schmelter, Oberarzt am Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Schloss Werneck, am Mahnmal für die ermordeten Patienten im Schlosspark. Foto: Foto: Anand Anders

    Enkel fragen nach ihren Angehörigen

    Immer noch erreichen Schmelter Anfragen, oft von Enkeln. Sie wollen mehr über das Schicksal ihrer Verwandten erfahren. In vielen Familien war und ist es ein Tabu, über „geisteskranke“ Angehörige zu reden. Ihre Existenz wird oft bis heute verschwiegen. Oft wurden sie sogar bereits zu Lebzeiten „vergessen“ und die Tatsache, dass sie ermordet worden sind, ignoriert.

    In diese nicht heilende Wunde streut nun die nachfolgende Generation Salz. „Ihre Neugierde und ihre Fragen sind meist sehr belastend für die Familien.“

    Manchmal ist es umgekehrt. So erkundigte sich kürzlich eine Tochter nach ihrem Vater, der ab 1943 in Werneck als Arzt gearbeitet hat. „Sie wollte wissen, ob er zu den NS-Tätern gehört, ob er auch Patienten getötet hat.“ Thomas Schmelter konnte sie beruhigen. Die NS-Verbrechen fanden in Werneck vorher statt.

    Meldebögen aus Berlin

    Ab Juli 1940 wurden an alle Heil- und Pflegeanstalten von einer Villa in der Tiergartenstraße 4 in Berlin aus Meldebögen verschickt. Die Adresse diente als Namensgeber für die „Aktion T4“. Alle Patientendaten sollten erfasst werden – mit dem Ziel, „lebensunwertes Leben“ in den „Gnadentod“ zu schicken. „Anfangs war der Zweck der Meldebögen unbekannt, aber es hat sich dennoch herumgesprochen“, erzählt Schmelter.

    Den Begriff „Gnadentod“ benutzte Adolf Hitler in einem auf den 1. September 1939 vordatierten Schreiben. Darin beauftragte er im Oktober 1939 NSDAP-Reichsleiter Philipp Bouhler und seinen Begleitarzt Karl Brandt, „die Befugnisse namentlich zu bestimmten Ärzten so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“.

    Rund 600 Meldebögen aus Werneck sind vor zwei Jahren im Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden gefunden worden. Sie waren wichtige Unterlagen bei der Vorbereitung des Prozesses gegen den Würzburger Psychiater Werner Heyde.

    Schicksal von Johann S. aus Schweinfurt

    Der Direktor der Würzburger Universitäts-Nervenklinik war zugleich ärztlicher Leiter der „Aktion T4“. Zu einer Verurteilung Heydes wegen des ihm vorgeworfenen 100 000-fachen Mordes kam es nicht. Kurz vor Prozessbeginn beging er am 13. Februar 1964 Suizid.

    Das Schicksal der Wernecker Patienten kann nicht nur anhand der Meldebögen rekonstruiert werden. Bei einigen war auch die Korrespondenz von und mit den Angehören beigelegt. Sie erschüttert, ist aber auch ein Glücksfall. Etliche Unterlagen aus anderen Anstalten wurden im Krieg vernichtet.

    Zu den Patienten, über die nun mehr bekannt ist, gehört Johann S. aus Schweinfurt. Er galt laut Meldebogen als „schwachsinnig“ und war seit 1921 in Werneck. Seine baldige Entlassung wurde verneint.

    Im dick umrandeten Feld unten links, das nach der Rücksendung der Meldebögen von der Berliner Zentrale der geheimen Mordorganisation „Aktion T4“ ausgefüllt wurde, steht das Todesurteil: „5.10.40 Sonnenstein“. Johann S. gehört also zu den 132 Patienten, die laut dem Wernecker Aufnahmebuch in eine „unbek. Anst.“ verlegt wurden, wie 23 weitere Männer und 108 Frauen.

    Die Wernecker Anstalt wurde vom 3. bis 6. Oktober 1940 fast vollständig geräumt und das Gebäude von der Volksfürsorge übernommen, um Volksdeutsche aus Bessarabien aufzunehmen, ab 1943 war es ein Lazarett. Insgesamt wurden 777 Patienten verlegt, aber nicht alle kamen in Lohr an. Das wusste Thomas Schmelter bereits, aber nun kann er hinter die reine Statistik schauen. Und was er dort sieht, macht ihn sehr nachdenklich.

    Ehefrau sucht verzweifelt nach ihrem Mann

    So hat die Frau von Johann S. am 25. Oktober 1940 einen verzweifelten und auch fordernden Brief an die Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Lohr geschrieben. Seit Wochen suche sie, unterstützt von ihrer Tochter, nach ihrem Mann. In Werneck hätten sie den Bescheid erhalten, dass Johann S. in eine andere Anstalt gekommen sei, „aber wohin, das konnte uns niemand sagen“.

    Durch Zufall habe sie von der Verlegung der Anstaltsdirektion von Werneck nach Lohr erfahren. „Nun wende ich mich an Sie mit dem dringenden Ersuchen, mir umgehend den jetzigen Aufenthalt meines Mannes mitzuteilen.“ Sie wundert sich, dass er dort, wo er jetzt sei, wohl keine Gelegenheit habe, selbst zu schreiben, denn sonst hätte „unser Vater“ schon längst mitgeteilt, wo er sich befindet. Sie schreibt von Rücksichtslosigkeit, von einer Ungewissheit, die sie und ihre Kinder nicht mehr ertragen könnten.

    Antwort aus Werneck

    Lohr leitet das Schreiben umgehend nach Werneck weiter zur „direkten Erledigung“ und mit dem Hinweis, „Johann S. wurde nicht in die hiesige Anstalt überführt“. Werneck lässt sich Tage Zeit mit der Antwort: „Ihr Ehemann wurde am 5.10. mit einem Sammeltransport in eine andere Anstalt des Reiches überführt. Der Name der Anstalt ist uns nicht bekannt.“ Und: „Sie werden sicher noch von der Anstalt, in die der Kranke aufgenommen wurde, direkt benachrichtig werden.“

    Ob die Familie S. kurz darauf einen „Trostbrief“ aufgrund eines angeblichen plötzlichen Todes und eine Urne, angeblich gefüllt mit der Asche ihres Mannes, erhalten hat, ist nicht bekannt, aber zu vermuten. Meist kamen die Benachrichtigungen nicht von der Anstalt, in der die Patienten getötet wurden. Der Weg in den „Gnadentod“ sollte auf diese Weise verschleiert werden.

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