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Schweinfurt: Viel Reden hilft: Wie Erstklässler an einer Schule mit 90 Prozent Migrationsanteil in Schweinfurt Deutsch lernen

Schweinfurt

Viel Reden hilft: Wie Erstklässler an einer Schule mit 90 Prozent Migrationsanteil in Schweinfurt Deutsch lernen

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    Grundschullehrerin Julia Kemper bringt ihren Erstklässlern aus der  1b den Buchstaben "Z" bei.  Kemper unterrichtet in der Schweinfurter Stadtmitte an der Friedrich-Rückert-Grundschule. 
    Grundschullehrerin Julia Kemper bringt ihren Erstklässlern aus der  1b den Buchstaben "Z" bei.  Kemper unterrichtet in der Schweinfurter Stadtmitte an der Friedrich-Rückert-Grundschule.  Foto: Daniel Peter

    Wenn die Eltern von Ajat und Alaa einen Text schreiben, dann schreiben sie nicht, wie im Deutschen üblich, von links nach rechts – sondern von rechts nach links. Wenn die Eltern der beiden syrischen Mädchen ein Buch lesen, dann von hinten nach vorne: Arabische Bücher blättern sich andersherum auf.

    Für Ajat und Alaa, zwei syrische Erstklässlerinnen in der Schweinfurter Friedrich-Rückert-Schule, bedeutet das: Sie müssen in der deutschen Schule nicht nur die deutsche Sprache neu lernen. Sie lernen auch eine neue Kultur.

    Erstklässler an der Friedrich-Rückert-Schule: "Frau Kemper, Bild gemalt, schau!"

    "Frau Kemper, Bild gemalt, schau!“ "Frau Kemper, habe gesehen heute Hörnchen!“ "Frau Kemper, habe Eis geesst!“ Gemeinsam mit den anderen Kindern drängen sich Ajat und Alaa am Beginn des Schultages um ihre Klassenlehrerin Julia Kemper. Sie erzählen, was ihnen wichtig ist, freuen sich über Aufmerksamkeit.

    Kemper nutzt, ohne dass die Kinder es merken, schon die Begrüßungsrunde zum Lehren. Sie macht aus dem "Hörnchen“, das vorbeigehüpft ist, ein "Eichhörnchen“. Verändert das "geesst“ in "gegessen“. Wiederholt die Kindersätze korrekt und versieht dabei das ein oder andere Wort mit dem zuvor ausgelassenen Artikel. "Schön, dass du mir das Bild gemalt hast!“

    Aus Syrien, der Türkei, aus Bulgarien, der Ukraine und aus Deutschland stammen die Kinder, die hier gerade Wiesenblumen wie den Rotklee kennenlernen. Lehrerin Kemper sagt, in Klassen mit hohem Migrationsanteil müsse die Lehrkraft "viel mehr reden".
    Aus Syrien, der Türkei, aus Bulgarien, der Ukraine und aus Deutschland stammen die Kinder, die hier gerade Wiesenblumen wie den Rotklee kennenlernen. Lehrerin Kemper sagt, in Klassen mit hohem Migrationsanteil müsse die Lehrkraft "viel mehr reden". Foto: Daniel Peter

    Lehrerin muss für Kinder mit Migrationshintergrund ein Sprachvorbild sein

    90 Prozent aller Schülerinnen und Schüler der Friedrich-Rückert-Grundschule in der Schweinfurter Stadtmitte haben einen Migrationshintergrund – damit hat laut Schulleiterin Sabrina Neckov die Schule einen der höchsten Migrationsanteile in Bayern.

    Auch in Julia Kempers 1b ist die Anzahl von Migrationskindern hoch: 16 der aktuell 20 Kinder (die Schülerzahl schwankt von Monat zu Monat) sind laut Lehrerin „ohne Deutschkenntnisse in die Schule gekommen“. In einer solchen Klasse muss Kemper "viel, viel mehr reden“ als in einer Klasse mit überwiegend deutschsprachigen Schülern.

    "Normalerweise beginnt man als Lehrkraft einer ersten Klasse mit einem hohen Redeanteil und lässt nach einigen Wochen die Kinder dann mehr zu Wort kommen“, erklärt Kemper. Weil aber ihre vielen Sprachneulinge aus Syrien, der Türkei, Bulgarien und der Ukraine ein „Sprachvorbild“ dringend brauchen, redet und redet Kemper täglich, bis die Kehle brennt.

    Genauso wichtig wie das viele Reden und wie Bild-Wortkärtchen sind in einer Migrationsklasse Sprach-Rituale: Jeden Tag fragt die Lehrerin die Kinder nach dem Wochentag, dem Datum, dem Wetter und übt so den Alltagswortschatz ein.

    Die meisten Erstklässler lernen in Schweinfurt schnell Deutsch, aber es gibt schwierige Fälle

    Auch wenn in den Kindersätzen oft ein Artikel fehlt – wie gut sich viele der Sprachneulinge nach drei Vierteln des Schuljahres auf Deutsch verständigen können, ist erstaunlich. Andererseits sind nicht wirklich alle Kinder "angekommen“ in Deutschland.

    Während Ajat und Alaa sich gern beteiligen im Unterricht und gerade begeistert ein großes "Z“ in die Luft malen – dieser Buchstabe kommt heute dran– zieht sich ein anderes Mädchen zurück. Sie schaut nicht Frau Kemper an, sondern den Boden. Sie redet nicht, sie interagiert nicht – jedenfalls nicht mit der Lehrerin. Das Kind kommt aus der Ukraine und einzig mit dem anderen ukrainischen Schüler tauscht es Worte aus.

    Rund zwanzig Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler hätten besonderen Förderbedarf, so Schulleiterin Neckov. Die Entscheidung allerdings, ob ein Kind eine Förderschule besuche, liege bei den Eltern – und manche Eltern lehnten, auch kulturbedingt, die Förderschule ab.

    Wie schreibt man "Flugzeug"? Das höchst unterschiedliche Leistungsniveau der Kinder in der Friedrich-Rückert-Schule bedeutet, dass jede Lehrkraft für jeden Unterrichtsschritt fünf und manchmal sogar zehn verschiedene Arbeitsblätter entwerfen muss – je nach Vorkenntnissen der Kinder. 
    Wie schreibt man "Flugzeug"? Das höchst unterschiedliche Leistungsniveau der Kinder in der Friedrich-Rückert-Schule bedeutet, dass jede Lehrkraft für jeden Unterrichtsschritt fünf und manchmal sogar zehn verschiedene Arbeitsblätter entwerfen muss – je nach Vorkenntnissen der Kinder.  Foto: Daniel Peter

    Was den Unterricht an der Friedrich-Rückert-Schule und anderen Schulen mit hohem Migrationsanteil so herausfordernd macht, ist die Heterogenität der Schüler: Einige der Erstklässler lesen und schreiben nach einem Dreivierteljahr Schule selbständig Wörter wie "Zauberer“, "Herz“ oder "Zirkus“, wie sie gerade in der 1b durchgenommen werden.

    Andere Kinder machen etliche Rechtschreibfehler, begreifen die Wörter aber im Prinzip und schreiben sie liebevoll ins Deutschheft. Und manche Kinder können noch gar nicht lesen und vertrauen drauf, dass der für sie unverständliche Buchstabensalat im Wort "zusammen“ entwirrt wird.

    Hoher Arbeitsaufwand für Lehrer: Nicht ein, sondern bis zu zehn verschiedene Arbeitsblätter für Schüler

    Dieses höchst unterschiedliche Leistungsniveau der Kinder bedeute, dass die Lehrkraft für jeden Unterrichtsschritt nicht ein, sondern fünf und manchmal zehn verschiedene Arbeitsblätter pro Klasse entwerfen müsse, sagt die Schulleiterin. Und damit ist es ja nicht getan. Auch Hausaufgaben und Arbeitsaufträge müssen individuell angepasst werden – und zwar in allen Fächern, von allen Lehrkräften, in allen Klassenstufen.

    All dies müsse zudem mit den Eltern besprochen werden –auch dies eine zeitliche Herausforderung, weil mit vielen Eltern nur über Dolmetscher kommuniziert werden könne. Und ja, natürlich sei, gemessen an den Lehrplan-Anforderungen, das Leistungsniveau in einer Klasse mit überwiegend Deutsch-Neulingen geringer als in Klassen mit überwiegend deutschsprachigen Kindern, so Neckov. Viele der Kinder seien eben noch mehr mit dem Lernen der Sprache als mit den Inhalten beschäftigt.

    Belastungsgrenze bei Lehrerinnen und Lehrern ist an der Friedrich-Rückert-Schule "weit überschritten"

    "Wir sind nicht nur an der Belastungsgrenze angekommen. Wir haben sie schon weit überschritten“, bilanziert die Schulleiterin. Was belastend sei, seien nicht die Kinder: "Sie sind unsere Zukunft.  Und für sie müssen wir alles tun.“

    Belastend ist Neckov zufolge vielmehr, dass angesichts der Notwendigkeit individueller und extrem zeitintensiver Förderung für fast jedes Kind im Prinzip eine Zweitlehrkraft pro Klasse notwendig wäre – aber die gibt es nicht. Und auch Förderlehrkräfte und Hilfslehrkräfte sind, bedingt durch den massiven Lehrermangel in Bayern, laut der Schulleiterin kaum zu finden.

    "Lernen mit allen Sinnen" ist an der Schweinfurter Friedrich-Rückert-Schule wichtig. 
    "Lernen mit allen Sinnen" ist an der Schweinfurter Friedrich-Rückert-Schule wichtig.  Foto: Daniel Peter

    Lehrerin Kemper könnte eine Assistenz-Lehrkraft brauchen, hat aber derzeit keine.

    Auch Lehrerin Kemper schlägt sich in ihrer Klasse, jener Klasse also, in der zu Schuljahresbeginn 16 Kinder kein Deutsch konnten, täglich allein durch. Sie hatte zwar eine Assistenz-Lehrkraft; als diese erkrankte, gab es aber keinen Ersatz.

    Zum Glück für die Kinder aus der 1b wirkt Julia Kemper trotzdem entspannt.  Gerade packt sie Wiesenpflanzen aus, die sie vor Unterrichtsbeginn in der Wiese neben ihrem Haus ausgegraben hat und die laut Lehrplan in der ersten Klasse durchgenommen werden sollen: Löwenzahn, Spitzwegerich, Rotklee. Eines der syrischen Mädchen platziert korrekt ein "Rotklee“-Schild neben der Rotklee-Pflanze. "Super!“, lobt Kemper und strahlt.

    Und sagt dann – bei diesem Unterrichtsbesuch, bei dem es um die Belastung der Lehrkräfte gehen soll: "Verstehen Sie mich nicht falsch, aber für mich bleibt Grundschullehrerin der schönste Beruf der Welt. Man kriegt so viel zurück.“

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