Vor zehn Jahren, von einem auf den anderen Tag, ändert sich das Leben von Julia schlagartig. Ihr Sohn, damals um die 20, habe sich plötzlich nicht wohlgefühlt, erinnert sie sich. Nach einem Kinobesuch "ist es total ausgebrochen", ihr Sohn nicht mehr ansprechbar, habe hinter jeden Schrank geschaut, sei "nicht mehr in dieser Welt gewesen".
Die erste Frage, als der Notarzt kommt: Hat er Drogen genommen? Julia weiß von nichts, kann es sich nicht erklären. Im Krankenhaus merken sie schnell, dass sie nicht weiterkommen. Die nächste Station: das psychiatrische Krankenhaus in Werneck. Wochen vergehen, ein Klinikwechsel, der Sohn bekommt Medikamente, weiß nichts mehr. "Dann sitzt man als Eltern da und heult abwechselnd", erinnert sich Julia. Irgendwann kommt ihr Sohn wieder heim, beginnt wieder zu arbeiten. Und dann: der nächste Schub.
Julia fragt sich damals: "Haben wir ihn überfordert?"
Jahre dauert es, bis die Diagnose fällt: Er leidet unter einer Psychose. Julia fühlt sich hilflos, überfordert. "Du bekommst den Jugendlichen weggenommen, er wird zugedröhnt, dann bekommst du ihn wieder, dann kannst du schauen", sagt die Mutter. "Da kommt eine Vielzahl von Fragen auf einen zu, mit der man gar nicht umgehen kann."
Julia findet Hilfe – und merkt, sie ist nicht alleine
Julia findet Hilfe beim Sozialpsychiatrischen Dienst (SpDi) des Caritasverbands Schweinfurt. Wird auf eine Selbsthilfegruppe für Angehörige aufmerksam gemacht. "Erst dachte ich noch: Ich weiß nicht, ob ich das brauche, ob ich das will, ob ich mich so öffnen und meine Probleme erzählen will", sagt sie. Die Gruppe hilft ihr. "Es ist ein Ventil. Ich kann nicht dem Rest meiner Familie dauernd vorheulen, was ich für Ängste habe. Da sind auch andere Kinder, die wollen ihr Leben leben." Und sie merkt: Sie ist nicht alleine.

Psychisch kranke erwachsene Kinder, damit haben in der Selbsthilfegruppe Angehörige, die es seit 2011 in Schweinfurt gibt, viele zu tun. An einem Abend Anfang Mai sitzen einige Teilnehmende um einen Konferenzraum herum. Sie haben sich bereiterklärt, über ihre Erfahrungen mit der Presse zu sprechen. Anonym. "Aber nicht meinetwegen", sagt eine. Sondern wegen ihrer kranken Tochter. Deshalb heißen die Angehörigen in diesem Text Julia, Philipp, Jenny, Sophia und Constanze. Nur eine Frau nennt ihren richtigen Vornamen: Sabine.
Sie sagt: "Der Schmerz und die Ängste sind bei allen gleich."
Philipps Tochter ist zwölf, als sie anfängt, sich zu ritzen. "Und wir haben es nicht gemerkt", erzählt er. Einer Lehrerin habe sie sich anvertraut, sei später in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gewesen, habe nicht mehr nach Hause gewollt. Der Grund: Philipp sagt, er kenne ihn nicht. Er sagt, er habe immer ein gutes Verhältnis mit seiner Tochter gehabt, heute haben sie keinen Kontakt mehr.
Bei ihm und seiner Frau komme eine "wahnsinnige Wut" auf. Die Ehe leide unter dem Verlust. "Wir gucken uns an und sagen uns, dass wir froh sind, uns noch zu haben", erzählt Philipp. Lange habe es gedauert, zu verstehen, dass ihre Tochter an einer psychischen Erkrankung leide.

Dass Angehörige mit Vorwürfen konfrontiert werden, sei nicht selten, weiß Doris Weißenseel, Abteilungsleiterin des SpDi, unter dem die Selbsthilfegruppe geführt wird. "Es liegt an euch, wir hatten eine böse Kindheit" – so etwas komme dann meist. Auch die Öffentlichkeit sucht in ihrer Verunsicherung oft Schuldige.
Julia fragt sich oft: "An welcher Stelle hast du als Eltern versagt? Habe ich ihn nicht genug unterstützt?" Als Mutter sei man immer schnell geneigt, die Schuld bei sich zu suchen. Solche Themen bespricht Julia in der Selbsthilfegruppe. Dort fühlt sie sich verstanden. Dort hat immer jemand Ähnliches erlebt, einen Tipp parat. Und dort geht es einfach nur um sie.

"Die Situation von Angehörigen zu sehen, macht die Gruppe aus", sagt Weißenseel vom SpDi. "Wo ich Angst haben darf, wo ich wütend sein kann auf mein Familienmitglied, ohne dass ein Zeigefinger kommt." Ursprünglich hatte Weißenseel die Selbsthilfegruppe geleitet, die sich einmal monatlich trifft. Nach ein paar Jahren organisierten sich die Teilnehmenden eigenständig – bis heute.
Das oberste Gebot der Gruppe: Vertraulichkeit. Die Teilnehmenden müssen sich sicher sein, dass andere nichts nach außen tragen. Philipp formuliert es so: "Wen du hier siehst, was du hier hörst, bitte lass' es hier." Neue potenzielle Mitglieder sollen daher nicht direkt zu den Treffen kommen, sondern sich erst einmal beim SpDi melden. In einem oder mehreren Vorgesprächen wird dann geschaut, ob es passt – und was die gegenseitigen Erwartungen sind.
Angehörige müssen lernen, sich auch um sich selbst zu kümmern
Durch einen Schicksalsschlag wird Sophias Tochter vor Jahren krank. Die Diagnose: Borderline-Störung. Das Familienleben erschwert sich. Sophia fühlt sich "Co-krank", sagt sie heute. Sie habe irgendwie sich selbst verloren. Und dann seien da noch die Bemerkungen von außen: Ihre Tochter solle sich mal zusammenreißen. Aber Sophia weiß: "Wenn man psychisch krank ist, ist jeder Tag ein Zusammenreißen."
Einmal sei die Mutter in die Stadt gegangen, ein bisschen shoppen. "Das gibt's ja auch noch", habe sie gedacht, und gleichzeitig: "Darf ich das überhaupt?" Eine Erfahrung, die auch die anderen Angehörigen teilen. Und eine, mit der sie in der Selbsthilfegruppe lernen sollen, umzugehen. Sich auch mal um sich selbst kümmern.
Auch Julia plagen immer wieder die Gewissensbisse: "Kann ich in den Urlaub fahren und jemand ist krank daheim?" Heute weiß sie: "Ich habe auch ein Recht darauf, dass es mir gutgeht."
Als großes Problem beklagen die Angehörigen, dass sie oft außen vor gelassen werden. So sei es Constanze gegangen, als sie ihre mittlerweile erwachsene Tochter damals in eine Klinik brachte. Sie sei regelrecht herausgeschmissen worden. Noch heute wird ihre Stimme laut, wenn sie davon erzählt, noch heute wirkt sie empört. Sie habe für ihre Tochter gesprochen, nachdem diese kein Wort rausbekam, das habe den Ärzten nicht gepasst.
"Ich habe auch ein Recht darauf, dass es mir gutgeht."
Julia, die einen psychisch kranken Sohn hat
Doris Weißenseel kennt diese Geschichten. "Das sind Situationen, die sehr kränkend für Angehörige sein können", sagt sie. "Aber es ist so: Dem Arzt, der Ärztin geht es um die betroffene Person, das ist ein anderer Blickwinkel." Ein böser Wille stecke da nicht dahinter. In vielen Kliniken gebe es allerdings einen Sozialdienst, der sich um die Angehörigen kümmere. Das psychiatrische Krankenhaus in Werneck etwa bietet in regelmäßigen Abständen ein Angehörigenforum an.
Und dann gibt es noch die Fälle, in denen die Betroffenen sich nicht eingestehen wollen, dass sie krank sind. Sich nicht diagnostizieren lassen wollen, wie es bei Jennys Tochter der Fall ist. Sie sieht es als einen Systemfehler, dass Behörden psychische Probleme nicht ernstnehmen, solange sie nicht diagnostiziert seien. Hilfe habe die Tochter nicht gewollt, bei ihrer Familie leben sei nicht gegangen. "Hätte man früher reagiert, hätte meine Tochter vielleicht schon früher irgendwo hingekonnt."
Doch sie weiß auch, dass nichts gegen den Willen der Betroffenen passieren kann. Jenny ist seit acht Jahren Teil der Selbsthilfegruppe, wirkt hoffnungslos. "So richtig zuständig fühlt sich niemand. Wir sind eine Familie, aber wir sind zerbrochen." Sie beneide jeden in der Gruppe, deren Angehörige die Hilfe annehmen. "Wenn sie rückführbar sind in das System", sagt sie und spricht Julia an: "So wie dein Sohn, der es zurück ins Leben geschafft hat."

Julias Sohn lebt mittlerweile in einer anderen Stadt – und das Loslassen sei schwer, sagt sie. "Ich habe ihn nicht mehr gesehen, wusste nicht, was passiert." Dann zieht ihre Tochter in die Stadt, in der auch der Sohn lebt. Endlich jemand vor Ort, habe Julia gedacht. Der Plan geht nicht ganz auf, wie sie heute lächelnd erzählt: "Meine Tochter meinte dann: 'Ich bin nicht der Wachhund.'"
Die Angst bleibt – egal, wie lange die Erkrankung schon besteht oder heute verläuft. Das merkt man den Angehörigen im Gespräch an. Die Angst, sie sei wie jemand, den man auf der Schulter sitzen hat, sagt Sabine. "Jemand, der immer da ist: morgens, mittags, abends, nachts."
Angehörigenforum im Bezirkskrankenhaus WerneckDas Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Werneck veranstaltet aktuell das sogenannte Angehörigenforum. Dieses soll Angehörige über psychische Erkrankungen und ihre Behandlungsmöglichkeiten informieren und Hilfen im Umgang mit den Erkrankten geben. Es soll aber auch um die eigene Entlastung und Bewältigung, die eigenen Sorgen und Ängste, gehen.Das nächste Angehörigenforum findet am 21. Juni 2024 von 15 bis 16.30 Uhr im Konferenzraum im Erdgeschoss Haus F im Krankenhaus Schloss Werneck statt. Auch zwei Wochen später soll es eine Veranstaltung geben, selber Ort, selbst Zeit. Weitere Informationen unter psychiatrie-werneck.deQuelle: lmw