Als Rudolf Virchow 1849 auf das erst vier Jahre zuvor eingerichtete Ordinariat für pathologische Anatomie in Würzburg berufen wurde war die medizinische Fakultät förmlich über sich hinausgewachsen. Zunächst hatten sich in Würzburg Virchows jüngster politischen Vergangenheit wegen zahlreiche Gegenstimmen gegen seine Berufung erhoben. Doch wollte man zur Intensivierung der wissenschaftlichen Tätigkeit den besten Kandidaten berufen, den man finden konnte - also Virchow.
Ausbildung als Militärarzt - mit naturwissenschaftlichem Blick
Rudolf Virchow, am 13. Oktober 1821 im pommerschen Schivelbein (heute: Swidwin) geboren, hatte in Berlin eine militärärztliche Ausbildung durchlaufen, bei der er von der zunehmend naturwissenschaftlichen Sichtweise beeinflusst worden war. 1846 wurde er Prosektor an der Charité und begründete schon 1847 die Zeitschrift "Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin".
1848 sandte ihn das preußische Kultusministerium nach Oberschlesien, um dort die Ursachen und Auswirkungen der damals grassierenden Typhus-Epidemie zu untersuchen. Die dort gemachten Erfahrungen, die die Missstände der verfehlten preußischen Politik anlasteten, erweckten sein liberales politisches Bewusstsein und ließen ihn 1848 im Zuge der bürgerlichen Revolution auf die Barrikaden gehen, was zur zeitweiligen Amtsenthebung und zum Verlust seiner Wohnung führte. Da kam die Berufung nach Würzburg gerade recht.
Nach Wien gleich Würzburg: zweites Ordinariat für pathologische Anatomie
Das 1845 hier eingerichtete Ordinariat für pathologische Anatomie war erst das zweite im deutschsprachigen Raum - 1844 war das erste in Wien begründet worden. In Würzburg hatten sich zunächst - seiner politischen Vergangenheit und der protestantischen Konfession wegen - zahlreiche Gegenstimmen gegen Virchows Berufung erhoben. Doch die Medizinische Fakultät wollte für die Stärkung der wissenschaftlichen Tätigkeit den besten Kandidaten berufen. So kam es, dass der Senat der Universität drei vom bayerischen Kultusministerium vorgeschlagene Bewerber ablehnte und von sich aus an Rudolf Virchow herantrat. Nach Ausräumung politischer Bedenken und Virchows Versicherung, sich in Würzburg nicht politisch betätigen zu wollen, konnte die Berufung erfolgen.
„Politisch ist Stagnation, geistig Stilleben.“
Rudolf Virchow über die Lage in Würzburg
„Politisch ist Stagnation, geistig Stilleben.“ So berichtete er seinen Eltern über die Situation, die er in Würzburg antraf. Doch gerade die provinzielle Ruhe an einer kleinen, deshalb aber nicht unbedeutenden Universität verschaffte ihm die besten Voraussetzungen für eine ungestörte Forschungstätigkeit und eine ungemein ertragreiche Zeit. Dazu kam ein offensichtlich beglückendes familiäres Umfeld, nachdem er 1850 geheiratet hatte und drei seiner sechs Kinder in Würzburg geboren wurden.
"Omnis cellula e cellula."
Virchow über den Grundsatz seiner Lehre und die Zellteilung
"Hier habe ich meine Zellularpathologie geschrieben", sagte er 1882 anlässlich des 300. Stiftungsfestes der Würzburger Universität. In der Tat hatte er den Grundsatz seiner Lehre dass jede Zelle durch Teilung aus einer anderen entsteht - "omnis cellula e cellula" - hier entwickelt und 1855 erstmals publiziert. Virchows mitreißende und lehrreiche Vorlesungen regten viele seiner Hörer zum Anfertigen ausführlicher Mitschriften an. So sind wir über den Werdegang seiner Gedanken gut unterrichtet, zumal er deren Ergebnisse unverzüglich in seinen Vorlesungen weiterzugeben pflegte.

In seinen Würzburger Jahren entwickelte Virchow auch seine standardisierte Sektionstechnik, deren oberster Grundsatz die "Vollständigkeit der Untersuchung und Genauigkeit in der Methode sowohl der Forschung als auch der Protokollierung" war. Dabei war die Einhaltung einer konstanten Technik für die Leichenuntersuchung und damit die Einhaltung einer festgelegten Reihenfolge der einzelnen Untersuchungsschritte eine wesentliche Voraussetzung für reproduzierbare Ergebnisse. Dies lässt sich aus den lückenlos erhaltenen sieben "Sektionsbüchern" der Würzburger Zeit nachweisen, die bereits vollständig den 1876 als Lehrbuch publizierten Kriterien entsprechen.
Hungersnot im Spessart: Virchow suchte innerhalb einer Woche nach den Ursachen
Als 1851 im Spessart eine Hungersnot ausbrach, beauftragte man Virchow zusammen mit einer Regierungsdelegation deren Ursachen zu ergründen. Bereits zwei Tage nach dem offiziellen Auftrag war er unterwegs und erledigte seine Aufgabe in einem derartigen Tempo, dass ihm die Regierungsbeamten kaum folgen konnten. Bereits eine Woche später lag der schriftliche Bericht über "Die Noth im Spessart" vor, eine von ihm so bezeichnete "medizinisch-geographisch-historische Skizze".
Das Ergebnis war indessen nicht so gravierend wie seine Befunde vier Jahre zuvor in Oberschlesien: Er fand eine chronische Unterernährung vor, die die Bevölkerung durch regelmäßige Missernten nahe an den Hungertod gebracht habe, und die durch Versorgung mit zusätzlichen Nahrungsmitteln bekämpft werden müsse. Zudem stellt er fest, dass sich indessen die Sterblichkeit nicht von derjenigen besser gestellter Regionen unterscheide. Auch hier konnte er wie für Schlesien resümieren, was auch heute noch Gültigkeit besitzt: "Bildung, Wohlstand und Freiheit sind die einzigen Garantien für die dauerhafte Gesundheit eines Volkes". Den ersten Bericht über die Visitation erstattete er übrigens vor der von ihm 1849 mitgegründeten und von ihm von 1852 bis 1854 geleiteten Würzburger physikalisch-medizinischen Gesellschaft, vor der 43 Jahre später Röntgen "eine neue Art von Strahlen" vorstellte.
"Als meine Kinder an die Schulzeit herankamen, da behagte es mir nicht mehr in Würzburg. Denn die Würzburger Schulen waren mir zu gering."
Rudolf Virchow über seinen Abschied
Anlässlich seines 60. Geburtstages fand Virchow später über seine Würzburger Zeit als Antwort auf die Laudatio des eigens zu diesem Anlass nach Berlin gereisten Würzburger Klinikers Franz Rinecker (1811–1883), der 1849 vehement für Virchows Berufung nach Würzburg eingetreten war, nur diese etwas herablassenden Worte: "Ich war gerne in Würzburg. Aber als meine Kinder an die Schulzeit herankamen, da behagte es mir nicht mehr in Würzburg. Denn die Würzburger Schulen waren mir zu gering. Und unter diesem Gesichtspunkt ging ich auch gerne von Würzburg fort."

Dies entspricht so gar nicht der Tatsache, dass Virchow in seiner Würzburger Zeit zweimal (1852 und 1855) den Ruf auf den pathologischen Lehrstuhl an der Universität Zürich ausschlug, und dass er nach dem Fackelzug, den man ihm nach der Rufabwendung 1852 darbrachte, und der anschließenden feuchtfröhlichen Feier acht Tage wegen "Grippe" dem Institut fernbleiben musste.
Zunächst im Gartenpavillon des Juliusspitals geforscht
Während Virchow in seinen ersten Jahren noch im Gartenpavillon des Juliusspitales forschte und lehrte, konnte er 1854 in das "medizinische Kollegienhaus" umziehen, dessen Konzeption in der Mitte des 19. Jahrhunderts revolutionär war, da hier neben dem pathologischen auch die Institute für Anatomie, Pharmakologie, Pharmazie und physiologische Chemie sowie die Lehr- und Arbeitsräume der medizinischen Poliklinik untergebracht waren. Es stellte somit ein frühes Beispiel einer interdisziplinären Forschungs- und Lehrstätte der Human- und Biowissenschaften, also eines "Bio-Zentrums" dar. Inzwischen musste es dem Parkhaus des Juliusspitals weichen.

1856 hatten sich in Berlin die politischen Wogen so weit geglättet, dass der inzwischen berühmte Pathologe zum Direktor des neu erbauten pathologischen Instituts der Charité ernannt wurde. Dort arbeitete er unermüdlich weiter und legte unzählige Beiträge auf den Gebieten der Pathologie, der Hygiene, der Sozialmedizin, der Anthropologie, der Ethnologie sowie der Ur- und Frühgeschichte vor, für die er Ausgrabungen in Pommern sowie zusammen mit Heinrich Schliemann in Troja durchführte. Schlaglichter auf seine medizinischen Forschungen geben die von ihm geprägten Begriffe Leukämie für den weißen Blutkrebs sowie Thrombose und Embolie für die Blutgerinnselbildung in Venen und Arterien.
Gründer der liberalen Fortschrittspartei - und Abgeordneter in Preußen und im Reichstag
Zum Politiker war Virchow schon 1848 nach seinen Erfahrungen in Oberschlesien geworden, seit 1859 war er Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung, und gründete 1861 die liberale Deutsche Fortschrittspartei, für die er von 1862 an im preußischen Abgeordnetenhaus und 1880–1893 im deutschen Reichstag saß.

1890 war Virchow schon so berühmt, dass er auf dem in diesem Jahr in Berlin stattfindenden internationalen medizinischen Kongress mit den Worten "Du wirst in die Ewigkeit eingehen" hoch geehrt wurde. Auf dem anschließenden Festabend, als der reichlich zur Verfügung gestellte Wein und Sekt schon manchem zum Verhängnis geworden war, sah man dann, wie der gefeierte Virchow von schwankenden Gestalten auf die Schultern gehoben und durch die Räume getragen wurde, vorbei an den zechenden Ärzten aller Nationen.
Erkenntnis und Anspruch: Medizin als soziale Wissenschaft
Insgesamt entwickelte Virchow eine innovative Sichtweise auf die Dienstbarkeit ärztlichen Handelns für humanistische Ideale auf verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten, wobei er immer wieder die allgemeine Verantwortung des Staates für die öffentliche Gesundheitspflege einforderte mit dem Anspruch, dass "die Medizin in ihrem innersten Kern und Wesen eine sociale Wissenschaft" ist.

Würzburg hat seinen im vorvergangenen Jahrhundert in seinen Mauern wirkenden berühmten ehemaligen Mitbürger übrigens nicht vergessen: Die Stadt hat seit 1901 eine Virchow-Straße, und die Universität
, womit sie anknüpft an Virchows wissenschaftlichen Ansatz, Krankheitsursachen in den kleinsten Bausteinen des Lebens zu erforschen, indem hier nun die Schlüsselproteine menschlicher Zellen untersucht werden.Der Autor: Dr. med. Christoph Weißer ist Chirurg und Medizinhistoriker. Bis 2016 war er als Unfall- und Notfallchirurg sowie als Lehrbeauftragter für Medizingeschichte an der Universität Würzburg tätig. Weißer ist seit vielen Jahren Schriftleiter medizinhistorischer Zeitschriften und hat unter anderem 2019 das „Chirurgenlexikon – 2000 Persönlichkeiten aus der Geschichte der Chirurgie“ veröffentlicht.