Staatsanwalt Ingo Krist spricht behutsam mit der 21-Jährigen: "Jeder hier im Raum weiß, wie sich die erste große Liebe angefühlt hat." Die junge Frau sitzt im Zeugenstand am Würzburger Amtsgericht und muss gegen ihren Exfreund aussagen. Er soll sie zur Prostitution gezwungen haben. Und obwohl Staatsanwalt, Richter und Verteidiger sie mit aller Vorsicht befragen, irgendwann kommen ihr dann doch die Tränen. Die 21-Jährige sagt: "Ich habe ihn einfach zu sehr geliebt. Er wusste genau, was er mit mir machen muss, damit ich alles für ihn tue."
Aus diesen Gründen ist dieser Fall so besonders
Der Fall ist aus vielen Gründen besonders: Auf der Anklagebank sitzt kein finsterer Zuhälter mit langem Vorstrafenregister, sondern ein 22-jähriger Abiturient. Er soll nicht irgendwelche Frauen in düsteren Industriegebieten auf den Strich gezwungen haben, sondern seine erste große Liebe in psychische und finanzielle Abhängigkeit gebracht haben. So weit, dass sie mit 18 Jahren begann, Pornos auf die Bezahl-Plattform OnlyFans zu stellen. Im ominösen Online-Netzwerk "Champlife" soll der Angeklagte gelernt haben, wie er seine Freundin so ausnutzen kann, dass sie für ihn anschafft.

Im August 2020 werden die beiden ein Paar: Er ist 18, sie 17. Der Abiturient geht im Elternhaus seiner Freundin ein und aus. "Er war fast wie ein zweiter Sohn", sagt die Mutter der Geschädigten jetzt vor Gericht. Nach einem Jahr habe er sich verändert. "Er fing an, am Wochenende zu Treffen zu fahren und ist allen Fragen dazu ausgewichen."
Die Exfreundin sagt, der Angeklagte habe immer mehr Zeit am Computer verbracht. "Irgendwann hat er mir gezeigt, dass er mit seinen Geschäftspartnern Frauen managt, die auf OnlyFans pornografische Videos von sich stellen. Er sagte, wie reich man damit werden kann und dass die Freundinnen seiner Kollegen das auch machen."
Prostitution auf OnlyFans: "Ich fühlte mich unwohl, aber er hat mir gut zugeredet"
Im Mai 2022 beginnt die damals 18-Jährige, Pornos online zu stellen. "Ich fühlte mich unwohl, aber er hat mir gut zugeredet", sagt sie heute.
Für Amtsrichter Bernd Krieger ist der Fall klar. Er sagt zum Angeklagten: "Sie haben ihre Freundin dazu veranlasst, auf OnlyFans zu gehen. Zwar niederschwellig, aber die Idee in ihrem Kopf platziert." Ist das Opfer unter 21, reicht das Veranlassen, um sich der Zwangsprostitution strafbar zu machen.

Die Geschäfte laufen, sie verdient über die Zeit 43.000 Euro, alles landet auf seinem Konto. "Wir sind in Urlaube gefahren, sie hat davon profitiert", sagt der Angeklagte. Anfang 2023 zieht er mit zwei "Geschäftspartnern", wie er sie im Prozess nennt, nach Prag und baut sein "Business" aus. Sie heuern weltweit Frauen an, darunter geflohene Ukrainerinnen, um sie auf der Porno-Plattform zu managen. Die Einnahmen hätten "Management" und "Models" fair aufgeteilt.
Seiner Freundin legt er indes Verträge vor, die laut Richter Krieger "für jedes Zivilgericht sittenwidrig" wären: 95 Prozent der Einnahmen bekommt er. "Warum haben Sie unterschrieben und nicht gesagt: Ich glaub', du spinnst?", fragt Krieger die junge Frau. "Wenn ich etwas nicht für ihn getan hab, hat er mich ignoriert. Er wusste, dass das schrecklich für mich ist. Also musste ich es machen." Die gemeinsame Zeit wird knapp - und zu seinem Druckmittel. "Und wenn ich ihn besuchen wollte, musste ich arbeiten."
Zunehmend habe er sie kontrolliert: "Er hat die Passwörter zu OnlyFans geändert, dass ich keinen Zugang mehr hatte. Er kontrollierte meinen Alltag, mit wem ich mich traf, was ich anzog. Jede Woche gab es eine Liste, was ich vor der Kamera tun sollte."

Der Angeklagte schweigt vor Gericht zu den meisten Vorwürfen. Er streitet kaum etwas ab, meint aber: "Sie hat alles freiwillig gemacht". Er selbst habe "das schöne Leben gesehen, das wir mit dem Geld haben konnten". Er habe viel Zeit in ihre "Karriere gesteckt". Irgendwann, so schildern es beide, stand im Raum, dass sie ihren Job kündigt, um mehr Zeit für OnlyFans zu haben. Er schreibt ihr die Kündigung.
Ausbeutung lernen: Welche Rolle das Netzwerk "Champlife" spielt
Ihr sei damals nicht bewusst gewesen, wie tief ihr damaliger Freund im Netzwerk "Champlife" verstrickt war, sagt die 21-Jährige. Zwar habe sie gewusst, dass die ominösen Wochenendtreffen mit der Gruppierung zusammenhingen, "aber nicht, worum genau es da geht".
Auch zwei Dokumentationen von ARD und ZDF, auf die sich die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage mehrmals bezieht, kannte sie nicht. Die Dokus schildern, wie man sich bei "Champlife" für 750 Euro zum sogenannten "Soul Locker" ausbilden lassen kann. Und wie man lernt, Frauen mit subtilem Druck auf OnlyFans zu zwingen und ihnen dann ihre Einnahmen wegzunehmen. Ein besonderer Meilenstein ist demnach erreicht, wenn ein "Champ" eine Frau dazu bringt, sich seinen Namen tätowieren zu lassen.
Der Angeklagte habe ein solches Tattoo gewünscht, sie lehnte ab. Er insistierte. Warum sie nachgab, fragt der Richter. Ihre Antwort: "Dann hätte er mich wieder ignoriert." Auch von der Methode, durch Ignoranz und Liebesentzug zu strafen, berichten die beiden Dokus.
Die Mutter der jungen Frau schöpft Verdacht - und geht schließlich zur Polizei.
Während die Geschädigte - "blind vor Liebe", wie der Richter sagt - auf eine gemeinsame Zukunft in Prag hofft, spürt ihre Mutter, dass etwas mit ihrer Tochter nicht stimmt. Verzweifelt googelt sie: "Warum tätowiert man sich den Namen des Freundes?" und stößt auf die zwei Dokus. "Da war mir alles klar." Sie wendet sich an die Polizei.
Es kommt zum Bruch mit den Eltern. Gemeinsam entschließt das Paar, dass sie nicht weiter auf OnlyFans arbeiten soll, sagen beide vor Gericht. Zu diesem Zeitpunkt, so legt es die Anklage nahe, könnte der 22-Jährige bereits befürchtet haben, dass man ihm auf der Spur ist. Er lässt sich seine Papiere nach Prag bringen und bucht einen Flug nach Argentinien. Am Flughafen in Buenos Aires wird er festgenommen. Er sitzt 50 Tage in Auslieferungshaft, dann weitere sieben Monate in Würzburg in U-Haft.
Und in diesem November vor dem Jugendschöffengericht. Weil er zur Tatzeit noch nicht 21 war, steht die Frage im Raum, ob er nach Erwachsenen- oder Jugendstrafrecht verurteilt wird.
Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe: Kein Unrechtsbewusstsein zu erkennen
Eine Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe rät vor Gericht dazu, den 22-Jährigen nach Jugendstrafrecht zu verurteilen. Er habe versucht, reich zu werden. Die einfachen Verhältnisse, aus denen er stamme, seien ihm immer "zu wenig" gewesen. Er habe BWL studieren wollen, das habe nicht geklappt. Seine Persönlichkeit könne nicht als ausgereift erachtet werden, sagt die Jugendgerichtshilfe-Mitarbeiterin. In der Sache könne sie "kein wirkliches Unrechtsbewusstsein erkennen". Sie könne nicht ausschließen, dass der Angeklagte nicht wieder versuchen würde, sein Geld mit OnlyFans zu verdienen.

Für den Staatsanwalt ist genau das der Grund, warum der Angeklagte möglichst hart und somit nach Erwachsenenstrafrecht zu bestrafen ist. "Ich habe das Gefühl, die Monate hinter Gittern haben nichts gebracht. Ich glaube, Sie würden sofort so weiter machen, wenn Sie draußen sind. Nur würden sie darauf achten, dass die Frauen eben über 21 sind", sagt Krist. Er fordert drei Jahre und sechs Monate.
Verteidiger Jochen Bauer argumentiert, dass sein Mandant keinerlei Zwang angewandt habe. Das verdiente Geld sei für gemeinsame Reisen draufgegangen. Der Anwalt plädiert auf Freispruch, in jedem Fall aber eine Jugendstrafe, die es seinem Mandanten ermögliche, "als freier Mann nach Hause zu gehen".
Verurteilt zu einer Jugendstrafe: ein Jahr und sechs Monate auf Bewährung
Das Gericht verurteilt den 22-Jährigen schließlich zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, auszusetzen zur Bewährung. "Wenn ich Ihnen sage, was ich moralisch von Ihnen halte, bekomme ich eine Anzeige wegen Beleidigung", sagt der Richter zum Angeklagten. Besonders die Haltung, sich während der Verhandlung lächelnd zurückzulehnen, kaum zu antworten, habe ihm missfallen.
Doch "Champlife", das Netzwerk, verhilft dem jungen Mann zu einer Jugendstrafe und einem milderen Urteil: "Sie haben sich von Champlife beeinflussen lassen", sagt Krieger. "Hätten sie sich das selbst ausgedacht, sähe das Ganze anders aus."
Der Geschädigten muss der Verurteilte 38.000 Euro zurückzahlen. 15 Stunden die Woche muss der 22-Jährige zudem Sozialstunden leisten, erstmal wieder bei seinen Eltern einziehen und regelmäßig seinen Bewährungshelfer treffen.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig, beide Seiten haben Berufung eingelegt.